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Der Winterpalast

Der Winterpalast

Titel: Der Winterpalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
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musste es jetzt schon Mitte Dezem
ber sein: Ich war schon mehr als einen Monat krank. Um mich etwas aufzuheitern, erzählte mir Mascha, was sie über das Festbankett wusste. Die Kaiserin, die Großfürstin und der Großfürst hatten oben an der Tafel gesessen wie drei Juwelen auf einer Krone, vor ihnen die Offiziere der vier Garderegimenter. Die Tafel war dekoriert mit kunstvollen Kreationen der Hofkonditoren: Triumphbögen und breite Alleen, prächtige Miniaturpaläste mit Terrassen und Gartenanlagen, alles aus Zucker! Mascha leckte sich die Lippen. »Wer das wohl nachher gekriegt hat? Oder isst die Kaiserin das alles selbst?«
    Ich hielt Katharinas Geschenk in der Hand. Meine Finger liebkosten die glatte Birkenrinde, in die ein Blumenmuster geprägt war. Mascha half mir, mich im Bett aufzusetzen. Es kostete mich mehr Anstrengung, als ich je für möglich gehalten hätte. Ich spürte einen stechenden Schmerz in meinem Bauch und musste plötzlich an meinen Bruder denken, der als Baby gestorben war und in Warschau begraben lag. Niemand , dachte ich, wird an Allerseelen eine Kerze auf sein Grab stellen, und mein eigenes noch nicht richtig entwickeltes Kind hat nicht einmal ein Grab.
    »Machen Sie es auf«, sagte Mascha ungeduldig.
    Ich öffnete das Kästchen und atmete den Duft von Pilzen ein, den Duft des Herbsts, an den ich, krank, wie ich war, keine Erinnerung mehr hatte. Draußen türmte sich der Schnee an den Straßenrändern, an die Stelle der Kutschen waren längst Schlitten getreten. Sehnsüchtig dachte ich an Schlittenfahrten durch eisige stille Weiten.
    In dem Kästchen befanden sich Schreibfedern und ein Tintenfass aus Kristall mit einem silbernen Deckel. Ich verstand die stumme Botschaft – sie ermutigte mich, ihr zu schreiben.
    »Ich habe Durst«, sagte ich zu Mascha. »Mach mir Tee.«
    Maschas Gesicht strahlte. Sie drehte sich um zu der Ecke, in der eine Ikone hing, bekreuzigte sich und verneigte sich tief.
    »Gelobt sei Gottes Barmherzigkeit«, sagte sie.
     
    In den nächsten Monaten trank ich folgsam das Gebräu, das Mascha für mich zubereitete. Ich fing wieder an zu essen, und meine ausgezehrten Wangen rundeten sich. Als das Jahr 1746 anbrach, hatte ich genügend Kraft, aufzustehen und in meinem Zimmer umherzugehen. Im April wollte die Kaiserin den vierten Jahrestag ihrer Krönung mit einem Festgottesdienst in der Kathedrale der Jungfrau von Kasan feiern. Katharina und der Großfürst würden natürlich daran teilnehmen. Und als Ehefrau eines Gardeoffiziers durfte auch ich bei dem großen Ereignis zugegen sein – wenn ich kräftig genug war, die orthodoxe Messe durchzustehen.
    Im März starb Anna Leopoldowna, die Mutter des entthronten kleinen Zaren, der in Festungshaft gehalten wurde. Im Flüsterton wurde die Nachricht verbreitet; es war verboten, den Namen Iwans VI . auszusprechen. Die Leute nannten ihn »Häftling Nummer eins« oder einfach »Iwanuschka«, aber auch das war gefährlich. Ein paar Monate zuvor war ein Weinhändler festgenommen worden, weil er alte Münzen mit dem Bildnis Iwans gehortet hatte – ein entlassener Diener hatte ihn denunziert.
    Die Neuigkeit bedeutete nichts Gutes für Katharina, das war mir klar. Voller Ungeduld wartete ich jeden Tag darauf, dass Igor vom Dienst nach Hause kam. Hatte er die Kaiserin gesehen?, fragte ich ihn. War sie zornig? Hatte sie die Großfürstin zu sich rufen lassen? Hatte Katharina geweint?
    Er antwortete mürrisch und kurz angebunden. Was ging es mich an, ob die Großfürstin endlich schwanger war oder nicht? Ich sollte mich besser um meinen eigenen Kram kümmern.
    »Es geht schließlich um Russlands Zukunft«, wagte ich ihm einmal zu erwidern.
    Igor patschte mit der flachen Hand auf seinen Unterarm, als wollte er eine Stechmücke erschlagen.
    »Wegen einer einzigen Frau, die keine Kinder kriegen kann, geht das große, mächtige Russland nicht unter, kison'ka «, sagte er.
     
    Am 25. April beobachtete ich, eingezwängt in der Menge, wie die kaiserliche Familie in die Kathedrale einzog. Die Kaiserin trug ein glitzerndes elfenbeinfarbenes Kleid und einen mit Hermelin gefütterten Umhang. Peter und Katharina gingen hinter ihr. Ich reckte den Hals, um einen Blick auf ihre Gesichter zu erhaschen. Peter sah blasser und kränklicher aus denn je, Katharina wirkte ernst und gesammelt. In matt schimmerndes Blau gekleidet, das Haar mit silbernen Fäden durchflochten, schritt sie dahin, immer die Kaiserin im Blick. Der Kanzler neben ihnen ging leicht

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