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Der Winterpalast

Der Winterpalast

Titel: Der Winterpalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
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ergingen. Vom Großfürsten war keine Spur zu entdecken, und zu meiner Erleichterung schien auch die Kaiserin nicht da zu sein.
    Ich stand auf dem Gang und wartete. Es dauerte eine Weile, bis Katharina mich bemerkte und ansprach: »Willkommen, Warwara Nikolajewna. Was für eine unverhoffte Freude, Sie so gesund und munter zu sehen.«
    »Ich freue mich auch, Sie zu sehen, Hoheit«, sagte ich vorsichtig. Sie wirkte heiter und angeregt. Vielleicht übertrieben die Gerüchte, die von Wutanfällen Elisabeths erzählten. Oder war Katharina endlich doch schwanger geworden?
    Ich konnte sie nicht fragen, ich konnte nur zuhören und beobachten.
    Fürst Naryschkin begann umständlich von einem Ausflug zum Pilzesammeln zu erzählen, der damit geendet hatte, dass er und seine Schwester sich im Wald verlaufen hatten. »Lew, der Wanderer«, spottete Gräfin Rumjanzewa neckisch. »Sind Sie immer so leichtsinnig?«
    Katharina trat näher zu mir heran. Ihr Parfüm roch nach Frühlingsblumen – Hyazinthen, Veilchen, Narzissen.
    »Wie geht es Ihnen, Hoheit?«, fragte ich. Es gelang mir nicht, das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken.
    »Gut«, sagte sie und nestelte an ihrer Stola. Fürst Naryschkin, der immer noch nicht aus dem Gestrüpp seiner Geschichte herausgefunden hatte, lachte schallend.
    »Und dem Großfürsten?«
    »Meinem Mann geht es auch gut.«
    Wir mussten vorsichtig sein; wir durften nur kurz miteinander sprechen und nichts, das uns gefährlich werden konnte, wenn uns jemand belauschte.
    »Ich lese viel zur Zeit, Warwara Nikolajewna. Allerdings keine französischen Romane mehr.« Ihre blauen Augen hatten etwas Schelmisches. »Graf von Gyllenburg hat mir Tacitus empfohlen und Montesquieu, aber die Bücher sind schwer zu bekommen.«
    »Ich werde sie Ihnen besorgen, Hoheit«, versprach ich.
    »Ich wäre Ihnen sehr zu Dank verbunden.« Sie streckte die Hand nach mir aus, zog sie aber gleich wieder zurück.
    Sie wandte sich ab, um andere Besucher zu begrüßen. Ich ging wieder zu Igor.
    Das Drama nahm seinen Lauf, ich schaute kaum hin. Auf der Bühne führte Iwan Sussanin die fremden Eindringlinge in die Sümpfe. Die Polen bemerkten zu spät, dass er sie betrogen hatte, und beschlossen, ihn zu töten, bevor sie selbst vernichtet würden. Sussanin ging freudig in den Heldentod, aber vorher schleuderte er den Feinden Russlands noch eine lange Liste von Ankla
gen entgegen: Die Polen wollten das russische Volk zu ihrem lateinischen Glauben bekehren, ihm seine Seele rauben und es versklaven.
    »Sie werden uns Versprechungen machen, aber wir werden von ihnen nur das bekommen, was sie wollen. Unser Schicksal ist den Polen gleichgültig«, klagte Sussanin, die Arme zum Himmel aufgereckt, und das Brausen eines Bühnensturms, unter dem sich die Bäume der Kulisse bogen, unterstrich eindrucksvoll seine Worte.
    Im Publikum erhob sich zustimmendes Gemurmel, gefolgt von frenetischem Applaus. Igor neben mir klatschte begeistert.
    Ich dachte daran, wie tapfer und fröhlich Katharina geklungen hatte, an ihre Hand, die mich beinahe berührt hätte. Als das Stück zu Ende war, ging ich zur Kutsche wie in einem Traum. Ich war dankbar, als Igor im Gedränge einen seiner Kameraden entdeckte und ankündigte, er werde mich nicht nach Hause begleiten.
     
    In den Tagen danach stöberte ich in den Buchhandlungen an der Großen Perspektivstraße nach Tacitus. Da ich nicht fündig wurde, wandte ich mich an Buchhändler, die früher Kunden meines Vaters gewesen waren. Bald traf die Germania ein, dann die Annalen und die Historien und auch eine Ausgabe von Montesquieus Lettres persanes . Wenn ich die Wahl hatte, nahm ich immer solide in Leder gebundene Exemplare – in der geheimen Hoffnung, dass sie vielleicht aus der Werkstatt meines Vaters stammten; allerdings war jenes Exemplar, bei dem die Buchstaben des Rückentitels über die Schattenlinie hinausreichten, nicht dabei.
    Mir war klar, dass die Tschoglokows jedes Buch, das ich in den Winterpalast schickte, gewissenhaft auf versteckte Botschaften untersuchten. Und Katharinas kurzes Dankschreiben auf elegantem Velinpapier mit Goldschnitt wurde gewiss nicht weniger aufmerksam geprüft.
    An einem düsteren Novembertag kam Igor mit der Nachricht
nach Hause, dass der Großfürst und seine Frau nach Oranienbaum umgezogen waren.
    »Warum?«, entfuhr es mir.
    »Bestuschew wollte es so. Er meint, am Hof gibt es zu viel Ablenkung.« Er verdrehte die Augen. »Aber welche Zerstreuungen könnten wohl den

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