Der Winterpalast
Kerzenlicht Igor über Darjas Wiege gebeugt; er redete leise melodisch auf sie ein, um sie zu beruhigen. Sie antwortete mit glucksenden Lauten. Er nahm sie aus ihrem Bettchen und hielt sie hoch, ganz nahe vor sein Gesicht, und strahlte sie mit dem befangenen Lächeln an, das mir so vertraut war.
Auf der Straße sang ein Bettlerjunge sein misstönendes Lied. Bald würde er an unsere Tür klopfen, er würde in der Küche einen Teller heiße Suppe und ein dicke Scheibe Brot mit Butter bekommen und sich eine Weile am Feuer wärmen, bevor er wieder hinausmusste in die Novemberkälte.
Wieder eine Folge glucksender Laute, die, zusammen mit etwas Sabber, aus dem Mäulchen sprudelten.
Ich beobachtete, wie Igor seine Tochter wieder in die Wiege legte und dann die rechte Hand zu seinem Herzen führte, als wollte er ein Gelöbnis besiegeln.
Das Lied des Bettlerjungen war zu Ende, und ich zog mich leise zurück.
Was für eine trübe Zeit, wie langsam sie verrinnt! Sie erstreckt sich endlos vor mir, so lang und eisig kalt wie die Winternächte von Sankt Petersburg. Manchmal, wenn die Tränen mich zu ersticken drohen, muss ich in wildem Galopp über die Felder reiten; das ist das einzige Mittel, das hilft , schrieb Katharina.
Zu Weihnachten schickte der Kanzler der Großfürstin eine Kiste ungarischen Rotwein und einige seltene Bücher, die er aus Paris hatte kommen lassen.
Sie ließ die Geschenke zurückgehen.
»Wollten Sie ihr vielleicht die Gesammelten Werke von Machiavelli schenken?«, fragte ich, als er an jenem Abend auf mich zu kam. »Aber nein, das wäre denn doch zu plump gewesen.«
Es war nicht das erste Mal, dass er im Russischen Theater, wohin ich Igor einmal pro Woche begleiten musste, seit ich wieder ausgehen konnte, meine Gesellschaft suchte. Der Kanzler wartete immer, bis mein Mann weggegangen war, um sich mit ande
ren Gardeoffizieren zu unterhalten, und er sprach immer nur über Katharina. Die Großfürstin, sagte er, sei ein ganz außergewöhnlicher Charakter. Sie vereine in sich kühle Gelassenheit, Mut und schnelle Auffassungsgabe. Der Großfürst täte gut daran, auf ihren Rat zu hören.
Immer aalglatt und geschmeidig , dachte ich. So reden sie bei Hof.
»Hören wir auf, einander Vorwürfe zu machen, Warwara Nikolajewna. Versuchen wir es mit ein bisschen mehr Takt. Oder vielleicht sogar mit christlicher Vergebung.«
Mir fiel auf, wie schwarz die verbliebenen Zahnstumpen in seinem Mund geworden waren, dass er lange Spitzenmanschetten trug, die die Altersflecken auf seinen Händen verdecken sollten. Ich hatte von Quecksilberkuren gehört und dass er viel zu viel trank. Seine rote Nase und die blutunterlaufenen Augen bestätigten, dass das kein leeres Gerede war.
Das Machtverhältnis zwischen uns war gekippt, und ich genoss es. Ich konnte einfach nicht widerstehen.
»Haben Sie schon angefangen, Ihre Sachen zu packen?«, fragte ich.
Gerüchten zufolge hatte Iwan Schuwalow den Winterpalast »eine zugige Bruchbude« genannt. Ein Palast sei wie die Fassung eines Edelsteins, er dürfe nicht weniger großartig sein als die Herrscherpersönlichkeit, die darin residiere. Was für Peter den Großen zu einer Zeit, da der Stern Russlands eben erst aufging, gut gewesen war, konnte seiner Tochter, die ein Weltreich regierte, nicht genügen. Warum sollte sie in den rußgeschwärzten Mauern aus längst vergangener Zeit wohnen? In Räumen mit niedrigen Decken und primitiven Möbeln, die aussahen, als hätte irgendein Lehrling sie zusammengezimmert? Wo war die heiter helle Leichtigkeit der Gegenwart? Die neuen Horizonte? Die neuen Visionen? Der neue Stolz?
Die Kaiserin teilte diese Ansicht. Monsieur Rastrelli, ihr italienischer Architekt, hatte es bereits zu spüren bekommen: Seine Plä
ne für einen Umbau des Palasts hatten keine Gnade vor den allerhöchsten Augen gefunden. »Bringen Sie mir Visionen! «, hatte Elisabeth verlangt. »Etwas, das ebenso groß und erhaben ist wie mein Russland.«
Der Kanzler lächelte, scheinbar völlig unbeeindruckt von meinem Spott.
»Packen? Das erzählen die Leute? So weit sind wir noch lange nicht. Sicher, im Schlafzimmer der Kaiserin liegen überall Kataloge von Pariser Auktionshäusern herum, und auf dem großen Schreibtisch, der jetzt dort steht, stapeln sich Skizzen und Entwürfe, aber entschieden ist noch überhaupt nichts.«
»Die Zimmerleute haben ihre Preise auf das Doppelte erhöht«, sagte ich. »Maurer und Steinmetze verlangen das Dreifache. Das spricht doch
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