Der Winterpalast
du ein Prinz bist, wo ist dann dein Hofstaat?«
»Hier. Diese Leute sind mein Hofstaat. Ich habe noch mehr Leute. Du siehst sie nicht, aber es gibt sie. Eine Menge Leute. Ich kann sie hören, und du hörst sie auch. Sie nennen mich Iwanuschka. Sie wissen Bescheid.«
»Was wissen sie?«
»Dass Gott mich liebt.«
»Was möchtest du jetzt tun?«
Der Junge überlegte, die Frage schien ihn zu verunsichern. Er steckte zwei Finger in den Mund und lutschte schmatzend daran. Einer der Bewacher streckte den Arm aus, der Junge wich zurück und stampfte mit dem Fuß auf den Boden. Der Soldat machte Anstalten, ihn zu packen, aber die Kaiserin hob gebieterisch die Hand.
»Was möchtest du jetzt tun?«, wiederholte sie.
»Essen.«
»Hast du Hunger?«
Er nickte.
»Was möchtest du haben?«
»Fleisch. Eier. Mehr Eier. Gib mir Eier!«
Sie winkte, und die Tür in der Wand öffnete sich mit leisem Quietschen. Drei Lakaien trugen ein Tischchen, einen Stuhl und eine große Platte herein, auf der hartgekochte Eier, ein ganzer gebratener Fasan und ein Laib dunkles Bauernbrot lagen.
Iwanuschka beachtete den Stuhl gar nicht, sondern stürzte sich heißhungrig auf das Essen. Gierig stopfte er es in sich hinein, leckte sich die Finger, riss große Stücke Brot ab, die er in die Soße
tunkte. Bratensaft tropfte auf seine Matrosenbluse, in seinem Haar klebte Fett, aber als einer der Diener mit Waschwasser und einem Tuch auf ihn zu trat, stieß er ihn mit einer Kraft, die man ihm nicht zugetraut hätte, heftig zurück. Der Mann taumelte und ließ die Wasserschale fallen.
»Wir gehen jetzt, Iwanuschka«, sagte die Kaiserin. »Möchtest du uns vielleicht noch etwas mitteilen?«
Er schaute gar nicht auf. Er hatte ein angebissenes hartgekochtes Ei in der Hand und pulte den Dotter heraus.
War diese Vorführung von Wahnsinn Schuwalows Idee gewesen? Sollte sie davor warnen, irgendwelche Hoffnung auf den entthronten Zaren zu setzen? Was versprachen sie sich davon? War es der Versuch, Elisabeths tiefsitzende Angst vor einem Putsch, einer Verschwörung gegen sie zu besiegen? Wollten sie ihre Macht demonstrieren?
Die Kaiserin stand auf und wandte sich an die Großfürstin.
»Seine Mutter ist tot, aber sie hat nach ihm noch zwei Kinder geboren«, sagte sie mit sonderbar spitz verkniffenen Lippen, als saugte sie Mark aus Knochen. »Es gibt also genügend Erben, wenn Sie keinen zur Welt bringen.«
Katharina erhob sich. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, als sie hinausging. Es wäre gar nicht schwierig, sie aus dem Weg zu räumen , dachte ich. Man musste es gar nicht so plump anstellen, sie einfach mit einem Kissen zu ersticken. Ohne irgendeinen Argwohn zu erregen, konnte man es einrichten, dass sie einen Besuch in einem Haus machte, in dem gerade jemand an den Pocken gestorben war, man ließ sie auf dem Sofa Platz nehmen, auf dem der Patient gelegen hatte, schenkte ihr den Fächer, mit dem er seine fieberheißen Wangen gekühlt hatte, stellte ihr die Tasse hin, aus der er getrunken hatte.
Kein Hahn würde nach einer unfruchtbaren Ehefrau krähen, die keine Freunde und Verwandten hatte. Sie würde ebenso sang- und klanglos verschwinden wie die erste Frau Peters des Großen, die man gezwungen hatte, fernab der Welt in einem Kloster zu
leben, Tag und Nacht beaufsichtigt von Wächtern, die die Anweisung hatten, ihr die Kehle durchzuschneiden, falls jemand versuchen sollte, sie zu befreien.
Katharina erwähnte in ihrem nächsten Brief aus Oranienbaum jenen Abend im Narrenkabinett mit keinem Wort. Stattdessen berichtete sie von den Marionetten, die der Großfürst einer Puppenspielertruppe abgekauft und mit selbst entworfenen Kostümen neu eingekleidet hatte. Er schrieb an einem Stück, das er in seinem Marionettentheater aufführen wollte. Es handelte von einem Scharlatan und Saufbold namens Faust, der den Leuten weismachte, er sei ein Gelehrter und großer Zauberer.
Der Soldat hat sich eine komplette Schreinerwerkstatt eingerichtet und sitzt stundenlang mit Puppenspielern zusammen, die ihn beraten. Das Ergebnis all seines Tüftelns und Bastelns mit Holz, Draht und Schnüren ist eine ziemlich raffinierte Mechanik: Die Faust-Marionette kann mit der Nase wackeln, sich am Kopf kratzen und sogar die Bäckchen bewegen.
Ich habe ihm gesagt, dass ich diesen Zeitvertreib weit besser finde als manchen anderen.
Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und nahm eine frisch gespitzte Feder. Jetzt, da die Schuwalows an Einfluss gewannen und den
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