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Der Winterpalast

Der Winterpalast

Titel: Der Winterpalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
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man im Herzen , hatte ich Katharina geschrieben. Es werden wieder bessere Jahre kommen; was Sie jetzt brauchen, ist nur der Mut, sie sich vorzustellen.
    Der Befehl, gemeinsam mit der Kaiserin an einer »Privatveranstaltung« teilzunehmen, erreichte uns, als wir auf unserem Weg zum Ausgang durch das dritte Vorzimmer schritten. »Bist du sicher, dass du es richtig verstanden hast?«, fragte Igor den Pagen, der uns nachgerannt war. Der Junge zuckte nur mürrisch die Achseln.
     
    Ich kannte den Raum, in den wir geführt wurden, die Wandtäfelung aus Zedernholz, die man leicht mit Wasser abwaschen konnte, die Bänke, die in einem Halbkreis auf einer Plattform angeordnet waren wie auf einer Bühne. »Das Narrenkabinett« nannte Elisabeth dieses Zimmer, in das sie Geisteskranke bringen ließ, um sie zu beobachten. Bilder und Wandschmuck waren so hoch angebracht, dass die Irren sie nicht erreichen konnten, wenn sie einen Tobsuchtsanfall hatten. Die Kaiserin kam oft hierher in den ersten Monaten ihrer Regierung. Von den Irren kann man viel lernen, sagte sie immer. Gottes Stimme kommt auf sonderbaren Wegen zu uns, darum müssen wir auch auf ganz verworrene Reden hören.
    Es waren nur wenige Personen anwesend; ich hörte Gemurmel, hie und da unterbrochen von nervösem Kichern, Gesichter waren im Dunkeln nicht zu erkennen. Draußen auf den Straßen, an deren Rändern sich Schnee auftürmte, ließ das Volk seine glorreiche Zarin Elisabeth Petrowna hochleben und wünschte ihr ein langes Leben und Gottes Segen. In den Kneipen der Stadt gab es Wodka und Blini gratis für alle.
    Auf der Bühne ließen Diener lange Holzplanken herunter, die an Seilen von der Decke hingen, und zündeten die Kerzen an, die darauf standen. Jetzt war die Bühne hell beleuchtet, und auch auf die erste Reihe fiel noch genügend Licht, sodass ich sehen konnte, wer da saß: Katharina und Peter, deren Abwesenheit bei den Festlichkeiten im Thronsaal so unangenehm aufgefallen war, und neben ihnen hatten die Kaiserin und ihr Kammerherr Platz genommen.
    Katharinas Gesicht kam mir klein und schmal vor, ihre Taille dünn. Mir fiel ein, dass sie in einem ihrer Briefe unerklärliche Schmerzen in den Gelenken erwähnt hatte. Das Klima in Oranienbaum tue ihr nicht gut, hatte sie geschrieben.
    Die Kaiserin klatschte in die Hände. Eine verborgen in die Wandtäfelung eingearbeitete Tür öffnete sich. Die Irren wurden hereingeführt: der Mönch, der sich die Genitalien mit einem Ra
siermesser abgeschnitten hatte, um sich ein für alle Mal von unkeuscher Begierde zu befreien, und überzeugt war, dass nur eine kastrierte Menschheit das Reich Gottes auf Erden errichten könnte; ein Diener, der mit Schaum vor dem Mund behauptete, eine Teufelin habe sich vor ihm ausgezogen und ihm befohlen, zu ihr zu kommen.
    »Sie hatte schwarze Zähne und große Brüste, in ihrem Haar waren Schlangen und Zweige«, antwortete er auf die Frage der Kaiserin, woher er wisse, dass es eine Dämonin und nicht einfach eine gewöhnliche Frau gewesen sei. »Die Schlangen bewegten sich und die Zweige nicht.« Er schnippte mit den Fingern, stülpte schmatzend die Lippe vor und fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund.
    Wieder ging die Tür auf, und zwei Wachen traten ein, die einen Jungen an den Armen gepackt hielten. Er war kräftig gebaut und hatte eine ungesunde Gesichtsfarbe. Sein Blick wirkte verstört, seine Augen huschten hektisch hin und her, als könnte jeden Moment etwas aus dem Schatten hervorbrechen und auf ihn losgehen.
    Er hatte eine schmutzige Matrosenuniform mit zerrissenen Ärmeln an. Die nackten Füße waren schwielig und verdreckt. Als die Wachen ihn losließen, schritt er im Kreis herum durch den Raum und schrie immer wieder: »Macht Platz! Macht Platz für Iwanuschka!«
    Dann blieb er stehen, reckte die Fäuste hoch in die Luft und kreischte. Die Wachen traten zurück.
    Ich sah, wie Igors Hand hochzuckte zu seinem Herzen.
    War er es wirklich? Zar Iwan, der Säugling, der in jener Novembernacht vor acht Jahren, als Elisabeth die Preobraschenski-Grenadiere zu Hilfe rief, verschwunden war? Oder vertraute die Kaiserin von Russland der Macht der Illusion?
    »Wie heißt du?«, fragte sie den Jungen.
    »Iwan.«
    »Wer bist du, Iwan?«
    »Ein Prinz.«
    »Weißt du, wo du bist?«
    »Nein.«
    »Du bist im kaiserlichen Palast.«
    »Ja. Ein Prinz wohnt in einem Palast.«
    »Du wohnst nicht hier. Ich habe dich hierherbringen lassen.«
    »Doch, ich wohne hier. Das ist mein Zimmer.«
    »Wenn

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