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Der Winterpalast

Der Winterpalast

Titel: Der Winterpalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
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man als eine Art Ermattungsfrieden beschreiben könnte. Als sich die Anzeichen häuften, dass es schon bald zum Krieg kommen würde, redete er immer öfter davon, dass er bei der kämpfenden Truppe weit bessere Aussichten auf Beförderung hätte als bei seinem Garderegiment in Sankt Petersburg. Er hatte noch nicht um eine Versetzung eingegeben, aber offenbar hatte die Nachricht, dass er es vorhatte, sich bereits verbreitet und seine Kreditwürdigkeit beträchtlich verbessert: Der Metzger starrte mich nicht mehr erbittert an, wenn er mich sah,
sondern zog höflich den Hut und erkundigte sich nach meinem Befinden.
    »Schau, Maman, schau!«
    Der Turm aus Bauklötzen schwankte, Darja jauchzte entzückt. Igors Frage war immer noch unbeantwortet, als der Turm einstürzte. Einen Moment lang war ich versucht, Igor zu verraten, was für Aussichten sich mir eröffnet hatten, aber dann ließ ich es sein.
    »Ich habe keine Ahnung«, sagte ich und beugte mich hinunter, um Darja zu helfen, die überall verstreuten Bauklötze einzusammeln. »Es ist ein kaiserlicher Befehl.« Meine Hände zitterten ganz leicht.
    Igor musterte mich prüfend, aber er schwieg.
    Im Schlafzimmer puderte ich meine Haare und legte das Kettchen mit dem Medaillon der Jungfrau an. Ich entschied mich für ein schlichtes braunes Kleid aus Baumwolle, dessen Kragen erst kürzlich gewendet worden war.
    »Noch mal, Papa!«, hörte ich Darja rufen. »Noch mal!«
    Nichts fällt einem so schwer wie etwas loslassen, das einem wirkliche, tiefe Freude bereitet , hatte Katharina in ihrem letzten Brief geschrieben.
    Mein Puls raste, und mein Magen krampfte sich zusammen, aber mein Gesicht im Spiegel wirkte erwartungsvoll heiter. Es war, als wäre ein Strahl Sommersonne ins Zimmer gefallen und vergoldete meine Gedanken mit Hoffnung.
     
    Ich wartete in dem Vorzimmer, dessen Wände mit Spiegelglas verkleidet waren. Es war kalt und zugig – ich verwünschte mich, weil ich das warme Schultertuch zu Hause gelassen hatte. Höflinge schritten eilig an mir vorbei, ohne mich zu beachten. Eine der Palastkatzen kam her und rieb sich an meinen Knöcheln.
    Ich wartete immer noch, als es schon zu dämmern begann. Aus den Gängen hinter den Wänden hörte ich die Schritte von Dienstboten, das Schlagen von Türen, ein dumpfes Rumpeln, als würde
etwas Schweres bewegt. Meine Finger wurden klamm, ich wärmte sie mit meinem Atem.
    Die Sonne war längst untergegangen, als ich ins Schlafzimmer der Kaiserin eingelassen wurde, in die wohltuende Hitze, die das prasselnde Feuer im Kamin ausstrahlte. Die Kaiserin war allein, bequem hingestreckt auf ihrem Bett, über ihrem rosa Nachthemd ein wollenes Schultertuch. Eine fette weiße Katze streckte die Pfoten nach ihrem Kinn aus. War das der alte Puschok?, fragte ich mich.
    »Du hast angeblich hochinteressante Neuigkeiten von meinem Neffen zu berichten«, sagte die Kaiserin, als ich mich von meinem Knicks wieder aufrichtete. »Ist es wirklich so sensationell?«
    Es klang spöttisch.
    Ich kam ohne Umschweife zur Sache.
    »Es hat nie ein Koitus stattgefunden, Euer Hoheit, und es kann nie dazu kommen, solange der Großfürst sein Gebrechen leugnet. Es hat sich bereits unter den Offizieren herumgesprochen. Und da sie Bescheid wissen, besteht die Gefahr, dass irgendwann einmal die Legitimität des Kindes in Zweifel gezogen werden könnte, das brauche ich Eurer Majestät nicht eigens zu sagen.«
    »Gebrechen?« Ihre Augen wurden schmal.
    »Der Chirurg kann Ihnen das besser erklären als ich, Hoheit. Es hat irgendwie mit der Vorhaut zu tun. Offenbar kommt so etwas nicht selten vor, und das Problem ist mit einem einfachen Schnitt zu beheben. Aber der Großfürst lässt den Chirurgen nicht an sich heran.«
    Obwohl nur eine einzige Kerze brannte, konnte ich sehen, dass das Alter die Kaiserin, mochte sie auch einen jungen Geliebten haben, unbarmherzig gezeichnet hatte. Ihr Gesicht wirkte aufgeschwemmt, und als sie sich mühsam am Bettpfosten hochzog, zitterte ihr Arm von der Anstrengung. Die weiße Katze huschte fort ins Dunkel.
    »Wieso hat mir das niemand gesagt?«, fragte die Kaiserin. »Wieso hat man mich all die Jahre vergeblich warten lassen?«
    Sie verfluchte die Tschoglokows. Auspeitschen sollte man sie, diese Dummköpfe.
    Sie verfluchte den Großfürsten.
    Sie verfluchte Katharina. Diese schwachsinnige Schlampe hätte längst zu ihr kommen und die Wahrheit gestehen müssen. Wieso hatte sie ihr all die Jahre etwas vorgegaukelt? Was hatte sie zu

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