Der Winterpalast
mir so wunderschön unfertig vor, so voller Möglichkeiten.
Sosehr ich mir wünschte, wieder an den Hof zurückkehren zu dürfen, wusste ich doch, dass mir das Herz bluten würde, wenn ich meine Tochter in steifer Hofgala zum Knicks niedersinken sehen müsste.
Anfang April 1752, als der letzte Schnee des Winters schmolz, wurde eine Kiste Rotwein an unserer Haustür abgeliefert. Ein Ge
schenk vom Kanzler des russischen Reichs, sagte der Bote dem Mädchen, das die Sendung in Empfang nahm.
Am Tag darauf brachte ein Diener des Kanzlers einen Brief.
»Es ist dringend«, sagte er zu Mascha.
Ich öffnete das Schreiben.
Bestuschew verlieh seiner Hoffnung Ausdruck, mit seiner bescheidenen Gabe nicht mein Missfallen zu erregen. Er würde gerne wichtige Dinge, eine Person betreffend, deren Wohl und Wehe mir am Herzen liege, mit mir besprechen. Wenn ich einverstanden sei, könnte mich der Lakai, der das Schreiben übergeben hatte, unverzüglich zu ihm bringen. Eine Kutsche stehe vor meiner Haustür bereit.
Meine erste Reaktion war Ärger. Ich war kein kleines Dienstmädchen mehr, das als Spitzel für ihn arbeitete. Was bildete er sich ein, dass er glaubte, ich würde alles stehen und liegen lassen und zu ihm eilen, um mir anzuhören, was er mir zu sagen hatte?
Ich hielt das Briefchen in meiner Hand, steifes Velinpapier mit Wasserzeichen und Goldschnitt. Am Abend zuvor war Igor lautstark über den König von Preußen und seine Eroberungsgelüste hergezogen. Schlesien hatte er bereits an sich gerissen. Wohin würde er als Nächstes marschieren, wenn man ihn nicht endlich zur Vernunft brächte? Nach Wien? Warschau? Oder gar bis nach Sankt Petersburg?
Eine Person betreffend, deren Wohl und Wehe Ihnen am Herzen liegt.
Draußen war es diesig, schwere, dunkle Wolken bedeckten den Himmel. Der Kirschbaum hatte im Lauf des Winters eine Menge Zweige eingebüßt. Ich fragte mich, ob er dieses Jahr überhaupt blühen würde.
Ich befahl Mascha, mir meinen Mantel und Handschuhe zu bringen.
Der Kanzler des russischen Reichs erwartete mich in dem holzgetäfelten Nebenzimmer eines Gasthauses am Ufer der Fontanka,
ein alter Mann, dessen Atem faulig roch. Er konnte sich ein triumphierendes Lächeln nicht verkneifen, als er aufstand, um mich zu begrüßen.
»Worum geht es?«, platzte ich heraus.
Der Griff seiner Hand an meinem Ellbogen war fest, aber ich spürte ein leises Zittern. Im Raum nebenan zupfte jemand die Saiten einer Geige. Dann fing eine Mädchenstimme zu singen an, ein Lied einer Mutter, die um ihren im Krieg gefallenen Sohn trauert.
»Um die Zukunft, Madame Malikina«, bemerkte Bestuschew und bedeutete mir, Platz zu nehmen. »Um die Zukunft, wie ich sie voraussehe, versteht sich. Unser aller Leben wird bald eine neue Richtung einschlagen.«
Ich setzte mich.
»Die Schuwalows feiern bereits ihren Sieg über mich«, fuhr der Kanzler fort. »Aber man soll bekanntlich das Fell des Bären nicht verteilen, bevor man ihn erlegt hat.«
Es fiel mir schwer, die Ruhe zu bewahren. O ja, die ganze Welt dreht sich nur um dich , dachte ich ungeduldig.
»Hören Sie, Warwara Nikolajewna. Ein großer Umschwung steht bevor. Die Konstellationen werden sich grundlegend verändern, und Sie können es sich nicht leisten, das zu ignorieren. Nicht, wenn Ihnen etwas daran liegt, auf welche Bahn Katharinas Stern gelenkt werden könnte. Und Ihnen liegt doch etwas daran, oder?«
Er wartete meine Antwort nicht ab. Es war nur eine rhetorische Frage gewesen.
»Der Kaiserin geht es nicht gut«, sagte er. »Das ist bis jetzt noch geheim, aber es wird sich bald herumsprechen. Der Großfürst ist ein kindischer Trottel, den man leicht manipulieren kann. Die Schuwalows lassen ihn jetzt schon nach ihrer Pfeife tanzen. Ihr Plan ist ganz einfach: Peter wird über Russland herrschen, und sie werden über Peter herrschen. Und was ist mit Katharina? Diese Dummköpfe glauben, sie spiele überhaupt keine Rolle.«
Die Tür ging auf. Ein magerer Junge mit einem Tablett kam herein, auf dem Teetassen und Unterteller klapperten. Ich suchte seinen Blick, während er das Geschirr auf den Tisch stellte, aber er schaute nicht auf von seiner Arbeit. Das Lied des Mädchens im Gastzimmer war zu Ende; jetzt spielten dort drei Geiger eine Melodie.
Der Kanzler wedelte mit der Hand zum Zeichen, dass der Junge verschwinden sollte. Ich tat Zucker in meinen Tee, rührte um und nahm einen kleinen Schluck.
»Saltykow hat das Seine getan«, fuhr er fort. »Katharina ist
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