Der Winterschmied
Händler hatten nie viel. Aber dafür hatten sie meist ein paar Gramm Eisensulfat dabei, und daraus konnte man eine anständige Tinte machen, wenn man es mit zermahlenem Gallapfel oder grünen Walnussschalen mischte. Mit den zusätzlichen Seiten, die Tiffany hineingeklebt hatte, war das Tagebuch jetzt so dick wie ein Backstein. Sie hatte ausgerechnet, dass es noch mindestens zwei Jahre reichte, wenn sie klein schrieb.
Mit einem heißen Fleischspieß hatte sie die Worte »Für Größte verboten!!« in den Buchdeckel gebrannt. Aber es nützte nichts. So etwas hielten Rob Irgendwer und die anderen bloß für eine Einladung. Deshalb hatte Tiffany damit begonnen, teilweise verschlüsselt zu schreiben. Das Lesen fiel den Kleinen Freien Männern des Kreidelands ohnehin schwer genug, und bestimmt gelang es ihnen nicht, einen Code zu knacken.
Tiffany sah sich vorsichtshalber aufmerksam um und öffnete dann das große Vorhängeschloss, das eine ums Buch geschlungene Kette sicherte. Dann blätterte sie zum aktuellen Datum, tauchte den Stift in die Tinte und schrieb:
Bin d begegnet
Ja, eine Schneeflocke war ein guter Code für den Winterschmied.
Er stand einfach da, dachte sie.
Und dann lief er weg, weil ich geschrien habe.
Was natürlich eher ein Glück war.
Hm...
Aber... ich wünschte, ich hätte nicht geschrien.
Tiffany öffnete die Hand. Das Bild des Pferds war noch immer da, weiß wie Kreide, aber es tat überhaupt nicht mehr weh.
Tiffany schauderte leicht und riss sich zusammen. Na und? Sie hatte eine Begegnung mit dem Geist des Winters hinter sich. Sie war eine Hexe. Solche Dinge geschahen manchmal. Er hatte ihr höflich zurückgegeben, was ihr gehörte, und dann war er verschwunden. Kein Grund, deshalb sentimental zu werden. Es gab einiges zu erledigen.
Dann schrieb sie: »Brf v R.«
Ganz vorsichtig öffnete sie den Brief von Roland, was nicht weiter schwer war, denn Schneckenschleim gibt keinen guten Kleber ab. Mit ein wenig Glück konnte sie den Umschlag sogar noch einmal benutzen. Tiffany beugte sich über den Brief, damit niemand über ihre Schulter hinweg mitlesen konnte. Schließlich sagte sie: »Fräulein Verrat, würdest du bitte mein Gesicht verlassen? Ich möchte meine Augen privat benutzen.«
Nach kurzer Stille ertönte unten ein Brummen, und das Prickeln hinter Tiffanys Augen ließ nach.
Es war immer... schön, einen Brief von Roland zu bekommen. Ja, er schrieb oft über Schafe und andere Dinge des Kreidelands, und manchmal legte er auch eine getrocknete Blume in den Umschlag, eine Glocken- oder eine Schlüsselblume. Oma Weh hätte davon nichts gehalten. Sie hatte immer gesagt: Wenn die Hügel wollten, dass die Menschen Blumen pflückten, so hätten sie mehr von ihnen wachsen lassen.
Wenn Tiffany die Briefe las, bekam sie immer Heimweh.
Fräulein Verrat hatte einmal gefragt: »Dieser junge Mann, der dir schreibt... ist das dein Kavalier?« Und Tiffany hatte schnell das Thema gewechselt, und erst, als sie die Zeit gehabt hatte, das Wort in einem Wörterbuch nachzuschlagen, war die Röte aus ihrem Gesicht gewichen.
Roland war... nun, die Sache mit Roland war... das Wichtigste... also, die Hauptsache an ihm war... dass er da war.
Na schön, bei ihrer ersten Begegnung hatte er sich eher als Versager und Dummkopf erwiesen, aber was konnte man anderes erwarten? Die Feenkönigin hatte ihn ein ganzes Jahr lang gefangen gehalten; er war damals ein Fettwanst und halb verrückt vor zu vielen Süßigkeiten und Verzweiflung. Außerdem war er bei zwei hochmütigen Tanten aufgewachsen, denn sein Vater - der Baron - interessierte sich hauptsächlich für Pferde und Hunde.
Inzwischen hatte er sich geändert. Er war nachdenklicher geworden, weniger rüpelhaft, ernster, weniger dumm. Außerdem trug er eine Brille, die erste im Kreideland.
Und er hatte eine Bibliothek! Mit mehr als hundert Büchern! Eigentlich gehörte sie zum Schloss, aber außer ihm schien sich niemand dafür zu interessieren.
Einige der Bücher waren groß und uralt, mit Buchdeckeln aus Holz, großen schwarzen Lettern und bunten Bildern, die seltsame Tiere und ferne Orte zeigten. Die Bibliothek enthielt Wespenschlamms »Buch ungewöhnlicher Tage«, Kromberts »Warum die Dinge nicht anders sind« und bis auf einen Band alle Ausgaben der »Unheilvollen Enzyklopädie«. Es hatte Roland sehr überrascht, dass Tiffany fremdsprachige Texte lesen konnte, und sie hatte ihm lieber nicht verraten, dass ihr die Überreste von Professor Hetzig
Weitere Kostenlose Bücher