Der Wolf
wurden sie nur selten von Menschen betreten.
Im Winter hielten sich die Wölfe in etwas tiefer gelegenen Gebieten auf, während sie sich im Sommer höher auf
den Berg zurückzogen. Wir beobachteten auch, daß sie
in manchen Gebieten sonntags höher am Berg waren als
unter der Woche. Viele für Autos befahrbare Gebiete in
tiefen Lagen waren an schönen Sonntagen von Unmengen picknickfreudiger Menschen überlaufen. Für die Wölfe
war es also durchaus sinnvoll, sich an diesen Tagen weiter
zurückzuziehen. Manchmal hatten wir sogar den Eindruck,
daß sie sich bereits am Sonntagmorgen, vor der Picknickinvasion, höher ins Gebirge zurückgezogen hatten : daß sie
also gewußt haben mußten, für wann die Invasion bevorstand. Doch das kam uns zumindest zu Beginn unseres
Unternehmens ganz unwahrscheinlich vor.
Von ihrem Rückzugsgebiet aus unternahmen die Wölfe mit
Einbruch der Dunkelheit Wanderungen, die sie von einem
möglichen Futterplatz zum nächsten brachten : einer Müllgrube, einem Dorf, einem Schafstall, einer weiteren Müllgrube. Morgens zogen sie sich dann wieder zurück, häufig
in dasselbe Gebiet, in dem sie sich tags zuvor aufgehalten
hatten. Dies war auch die Zeit, in der wir sie am ehesten zu
Gesicht bekamen. Abends warteten sie fast immer, bis es
ganz dunkel war, bevor sie herunterkamen, doch morgens
blieben sie nicht selten unten, bis die ersten Bauern ihre Felder betraten. Sie paßten sich also weitgehend dem menschlichen Aktivitätsrhythmus an, der ja in bezug auf den Sonnenstand meistens einige Stunden hinterherhinkt.
Dabei kam es auch vor, daß sie aus den menschlichen
Siedlungsgebieten manchmal nicht rechtzeitig in die Berge
zurückkamen. Einige Wölfe blieben dann den Tag über in
irgendeinem Versteck und zogen erst bei Dunkelheit wieder weiter. Wolf 1/2 zum Beispiel (das war der erste von
uns gefangene Rüde, dem wir ins linke Ohr die Marke 1,
ins rechte die 2 geklemmt hatten) blieb tagsüber manchmal in einem kleinen Wäldchen unterhalb eines Dorfes,
keine hundert Meter vom nächsten Haus entfernt. Wolf
9/10 indessen, ein Weibchen im Maiella-Massiv, scheute die
größten Umwege nicht, um in sein Tagesgebiet zurückzukommen, die steilen Felshänge am Fuß des Maiella oberhalb von Santa Eufémia.
Raumnutzung von Mensch und Wolf
Die Wölfe scheinen in der Tat beste Kenntnisse über die
menschlichen Aktivitäten zu haben. Sie meiden den Kontakt soweit wie möglich. Andererseits gibt es für sie fast
nur in der Nähe des Menschen Freßbares. Im Sommer benutzen sie kaum jemals geteerte Straßen, sondern Feldwege und Pfade im Gelände. Im Winter dagegen sind die
geräumten Straßen ihre hauptsächliche Wanderroute. Alle
waldfreien offenen Gebiete, wo tagsüber Menschen sich
aufhalten können, werden jedoch nur bei Dunkelheit oder
sehr früh am Morgen begangen. Dies gilt vor allem für die
Sommermonate, während deren die menschliche Aktivität
im Gelände ungleich größer ist als im Winter.
Eines Vormittags im Januar 1976 kam ich mit dem Landrover von Campo di Giove in Richtung Passo San Leonardo
gefahren. Von Fonte Romana ortete ich das Signal von 9/10
und zweien ihrer neun Monate alten Welpen. Vermutlich
rastete das ganze Rudel nur wenig oberhalb meines Standorts im Wald. Ich fuhr weiter. Vor dem Paß war die Straße
durch meterhohe Schneewehen blockiert. So kehrte ich nach
Fonte Romana zurück. Im Empfänger konnte ich heraushören, daß die Wölfe unruhig wurden. Nach etwa zwanzig Minuten zogen sie los in Richtung Passo und in ihr traditionelles Tagesgebiet um Santa Eufémia, etwa acht Kilometer weiter nördlich. Stets bewegten sie sich bei solchen
Tageswanderungen im Wald zu Füßen des Maiella. Jedenfalls hatte ich sie noch nie bei Tageslicht über das offene
Gelände um den Passo San Leonardo laufen sehen.
Als sie hinter Fonte Romana verschwunden waren, schnallte ich mir die Skier an und kletterte den Hang hinauf, um
zu sehen, wie viele es gewesen waren. Ich fand bald die
Spur von sechs Wölfen und folgte ihnen in Richtung auf
den Paß. Sie hatten einen Vorsprung von vielleicht dreißig Minuten. Als sie das große Hochplateau erreicht hatten,
zogen sie diesmal nicht weiter am Waldrand entlang, sondern aus dem Wald heraus bis zur Straße – und das mit
Das Maiella-Untersuchungsgebiet.
ten am Tag. Noch nie hatte ich ähnliches vorher gesehen.
Irgendwie mußten sie bemerkt haben, daß auf den schneeverwehten Straßen keine Autos fuhren, ja daß Autos überhaupt nicht fahren
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