Der Wolf
und erst recht die aus dem Rudel ausgeschiedenen »Prügelknaben« passierten das Tor hingegen
erst nach Wochen. Einigkeit, so scheint es, macht auch bei
Wölfen stark.
Der Sturz des »Super-Alphas«
Einigkeit macht aber auch gefährlich : auf der Jagd, im
Kampf gegen Rudelfremde, beim Ausbau der eigenen Position in der Rangordnung. Davon mußte auch ich Kenntnis
nehmen. An einem Nachmittag im Spätherbst 1972 hatte
ich gerade meine vier alten »Oberwölfe« an die Leine gelegt,
um mit ihnen eine Wanderung durch die Hochlagen des
Nationalparks zu machen. Da riefen mich Freunde oben
von der Tribüne. So zog ich die Wölfe ins Gehege zurück,
was sie nicht gerade freundlich aufnahmen. Diese Wanderungen waren für sie immer ein großes Ereignis, und das
sollte nun offenbar doch nicht stattfinden. Von der Kette
befreit, stürzte sich Wölfchen, der Alpha-Rüde, als erster
auf mich, sekundiert von Mädchen, dem Alpha-Weibchen.
Näschen und Alexander hingegen gingen sofort weg : Es
war nicht ihr Streit; nicht ihre Stellung in der Rangordnung stand zur Disposition, sondern meine und damit auch
die der beiden Ranghöchsten, die zuvor nur noch mich als
so etwas wie einen »Super-Alpha« über sich gehabt hatten und diesen Zustand offensichtlich nicht mehr hinnehmen wollten.
Vereint griffen die beiden Alphas an. Selten sind mir Wölfe
so groß vorgekommen. Gerade noch konnte ich einen Stock
ergreifen und die beiden wütenden Wölfe stockschwingend
auf Abstand halten. Ich schrie aus Leibeskräften, zugleich
aus Angst wie auch um den beiden ebenfalls Angst einzujagen. Ihre Nacken- und Rückenhaare standen hoch, was
mir zeigte, daß sie nicht ganz ohne Hemmung angriffen,
sondern auch Respekt vor meinem Gebrüll und wohl noch
mehr vor meinem groben Stock hatten. Trotzdem schien
sich ihre Wut nur noch zu steigern. Inzwischen waren alle
Rudelmitglieder um uns versammelt, doch griff keines mit
an. Offenkundig war ich im Rudel doch nicht ganz unpopulär. Die Angriffe Wölfchens und Mädchens reichten mir
allerdings auch. Immer wieder mußte ich sowohl nach vorne
wie nach hinten mit dem Stock um mich schlagen, damit
keiner von beiden mich anspringen konnte. Auch mir standen wahrlich »die Haare zu Berge«.
Allmählich aber wich meine Angst der Wut über die, wie
mir in diesen Augenblicken schien, undankbare Anmaßung
der Wölfe. Daß meine Stellung im Rudel nicht wesentlich
anders zu bewerten war als die jedes anderen Rudelmitglieds
– diese Zusammenhänge hatte ich schließlich lange genug
studiert –, daran dachte ich jetzt nicht, auch nicht daran,
daß meine Stellung ja nicht allmächtig war. Ich hatte nur
noch Wut im Bauch. Da traf mein Stock den Schädel von
Mädchen. Sie fiel sofort bewußtlos um. Doch Wölfchen griff
weiter an, bis auch ihn ein harter Schlag auf den Schädel
traf. Er ging jedoch nicht zu Boden, sondern torkelte nur
etwas, gerade lange genug für mich, um die rettende Tribüne zu erreichen, der wir uns, immerzu im Kreis herumwirbelnd, genähert hatten. Von hier aus sah ich, daß Mädchen langsam wieder aufstand und Wölfchen weiterhin
wütend auf die Tribüne hinaufzuspringen versuchte. Die
inzwischen zahlreichen Besucher und auch meine Freunde
waren alle stumm vor Entsetzen. So hatten sie das Verhalten der Wölfe von mir in den letzten Jahren nicht geschildert bekommen. Eher entsprach das Erlebte dem alten Bild
aus den Märchen. Ich kam mir vor, als stünde ich nicht wie
ein gerade dem Tode entronnener Held vor ihnen, sondern
als ertappter Lügner.
Doch wie schon gesagt, und dies mußte ich mir dann
auch selber sofort bestätigen : Hier handelte es sich nicht
um den Angriff eines Wolfes auf den Menschen als Feind
oder Beute, sondern um einen Kampf um soziale Vormacht.
Und die gewinnt, wie wir noch sehen werden, für jeden
Wolf im Rudel irgendwann eine alles bestimmende Bedeutung. Wölfchen und Mädchen hatten dieses Stadium jetzt
erreicht. Da ich geflüchtet war, schien von nun an der AlphaRüde uneingeschränkt im Rudel zu herrschen. Doch gleich
am nächsten Morgen, als oben auf der Tribüne noch lange
niemand zu erwarten war, ging ich ins Gehege zurück, mit
einem Stock wiederum wohl bewaffnet. Die Aversion der beiden Alphas mir gegenüber war nicht geringer als tags zuvor;
ihr Respekt jedoch, wohl im Einklang mit dem dröhnenden
Schädel, war deutlich gestiegen. So blieb unser Verhältnis
den Winter über gespannt, äußerst gespannt sogar. Aber
man ging sich aus dem Weg. Erst zur
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