Der Wolf
Ranzzeit, im Spätwinter, beruhigte sich die Situation. Doch da war zumindest für Mädchen die Zeit ihrer Vorherrschaft im Rudel
ohnehin vorbei. Denn Finsterau, ihre jetzt bald zwei Jahre
alte »Stieftochter«, stand an, die führende Stellung für sich
zu beanspruchen.
Finsteraus Aufstieg
Angefangen hatte Mädchens Abstieg wohl schon im Winter
zuvor. Während Wölfchen als souveräner Alpha-Rüde weiterhin recht tolerant seine Herrschaft im Rudel behauptete,
wurde Mädchen zunehmend aggressiver gegen eines nach
dem anderen der vier jungen Weibchen. Keines von ihnen
wurde aus dem Rudel vertrieben, aber ihr sozialer Freiraum in der Zeit vor und nach der Ranz war nicht gerade
groß. Wie wir wissen, ging diese vorbei, ohne daß Mädchen von einem ihrer Brüder gedeckt worden war. Wieder schien die Inzesthemmung zu wirken, zumindest bei
Mädchen. Die anderen Weibchen waren zur Fortpflanzung
noch zu jung. Im folgenden Sommer ließ Mädchens Druck
etwas nach. Die jetzt anderthalbjährigen Weibchen beteiligten sich intensiv an der Aufzucht der neuen Welpen aus
Olmütz. Mädchen selbst aber blieb reserviert. Weder mit
den Welpen noch mit den älteren Weibchen sah man sie
jemals spielen. So versäumte sie es wohl, sich eine »Hausmacht« zuzulegen, jüngere Tiere an sich zu binden, die
später für sie hätten Partei ergreifen, sie im Machtkampf
hätten unterstützen können.
Dieser begann nicht einmal zwischen Mädchen und ihrer
späteren Bezwingerin Finsterau, sondern ging von Finsteraus Schwester Schönbrunn aus. Sie hatte sich zusammen mit
Näschen besonders intensiv um die neuen Welpen gekümmert. Zusammen mit den Welpen bildeten die beiden fast
ein eigenes Rudel, das sich hauptsächlich im Nebengehege
aufhielt. Die Welpen rannten zwischen allen Tieren hin
und her, doch Näschen und Schönbrunn lebten abseits.
Als dann im Herbst die Jungwölfe immer mobiler wurden, versuchten die beiden sich wieder dem großen Rudel
anzuschließen. Bei Näschen gelang das ohne Probleme.
Zwischen Mädchen und Schönbrunn hingegen kam es zu
einer Pattsituation, die schließlich in einem furchtbaren
Kampf endete. Dabei siegte Mädchen, allerdings verletzt.
Da inzwischen ja auch die Beziehung zwischen ihr und
mir nicht gerade freundlich gestimmt war, konnte ich ihre
Wunden nicht versorgen. Sie schienen zunächst auch nicht
besonders schlimm zu sein. Trotzdem blieb sie in den folgenden Wochen in ihrer Beweglichkeit gehemmt. Dadurch
kam Finsterau zu ihrer Chance.
Der plötzlich abgefallene Druck von oben schien Finsterau zu eigener Expansion anzuregen. Zuerst hörte sie
auf, gegenüber Mädchen Demutsverhalten zu zeigen, was
diese wiederum zu deutlichen Protesten veranlaßte. Doch
Finsterau konnte jeder Annäherung der nach wie vor steifbeinigen Alpha-Wölfin ausweichen, und so wurde das Verhältnis zwischen den beiden immer gespannter. Bald griff
Finsterau sogar Mädchen von hinten an, wobei sie die Schwäche der Rivalin geschickt ausnutzte. Gleichzeitig drängte
sie sich immer aufdringlicher gegen Wölfchen, den AlphaRüden. Auch Mädchen zeigte ihm gegenüber mit einemmal Demutsverhalten. Im Begriff, ihre Vormachtstellung
zu verlieren, unterwarf sie sich ihrem an den Auseinandersetzungen ansonsten nicht beteiligten Partner. Das Ganze
war ein aufregendes Schauspiel.
Um die Jahreswende kam es dann zu dem erwarteten
Machtkampf. Hemmungslos und ohne Ausdruck kämpften die beiden Wölfinnen im aufstiebenden Schnee; nur das
widerliche Geräusch knackender Knochen war zu hören.
Sofort waren auch die anderen Tiere zur Stelle. Die Altwölfe
hielten sich zurück, doch alle drei Schwestern Finsteraus
und die gesamte »Halbstarkenbande« der Jungwölfe nahmen für Finsterau Partei und griffen mit an. Damit war
der Ausgang des Kampfes entschieden. Wie von Sinnen
griff Finsterau an, und schließlich blieb Mädchen regungslos liegen.
Das war dann doch zuviel für mich, der ich mir nach
meinem eigenen Sturz als »Super-Alpha« vorgenommen
hatte, mich nicht mehr in das Geschehen im Rudel einzumischen. Ich kam gerade rechtzeitig, um Mädchen das
Leben zu retten. Als ich sie aus dem Gehege trug, griffen
die anderen Weibchen sie noch wie irrsinnig an. Sie hätten Mädchen ohne Zweifel getötet, wäre ich nicht dazwischengetreten.
Die Verletzungen sahen schlimm aus. Mädchens Gesicht
war erheblich verunstaltet, die Haut an mehreren Stellen
aufgerissen und von tiefen Wunden übersät. Doch Wölfe
sind zäh. Mir gegenüber war Mädchen
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