Der Wolfsmann
war der zerrissene Leichnam eines Menschen, dessen Seele im Tod ihre Freiheit wiedererlangt hatte.
*
Sie hatten einen Vorsprung, nicht sehr groß, aber er musste reichen, um für einige Augenblicke zu rasten. Seit dem Sturz der Statue waren die Freunde nicht zur Ruhe gekommen. Ihr Atem ging hastig. Sie konnten nicht immer weiter ziellos fliehen.
Vielleicht lagen die eigentlichen Katakomben schon hinter ihnen, riesige unterirdische Hohlräume, zahllose Pfeiler und aus Steinen aufeinandergesetzte Bögen und Zwischenwände, die die Decken stützten. Über ihnen lagen die Straßen und Häuser der Stadt. In diesem Teil der geheimnisvollen Unterwelt wären die Gefährten den Wölfen ebenso schutzlos ausgeliefert gewesen wie auf dem Marktplatz.
Mythor bezweifelte, dass die Bürger Lockwergens von den Katakomben überhaupt etwas gewusst hatten. Hier war in den letzten hundert Jahren niemand mehr gewesen.
Nun befanden sie sich in einem relativ engen Felskorridor, von dem sie nicht wussten, wohin er führte. Den Eingang hatten sie mit schweren Steinen verbarrikadiert, doch es war nur eine Frage der Zeit, bis die Wölfe sie beiseite geschafft hatten.
Sie saßen schnaufend und schwitzend auf dem nackten Fels des Bodens. Das einzige, was diesen Gang und die Gewölbe der Katakomben zu verbinden schien, waren die riesigen Steinplatten, die einen Pfad auf dem Boden bildeten, wie Mythor einen ähnlichen noch vor wenigen Tagen nördlich von Lockwergen gesehen hatte. Ihm waren sie gefolgt, von der Einsturzstelle an, und Mythor war sicher, dass er sie noch viel tiefer in das unterirdische Reich führen würde.
»Du glaubst, dass dies ein Teil des legendären Titanenpfads sein könnte?« fragte Sadagar. Mythor hatte den Freunden auf dem Weg nach Lockwergen von seiner Entdeckung erzählt.
Er hob die Schultern. »Möglich«, murmelte er, nur halb bei der Sache. Seine ganze Aufmerksamkeit galt Nyala, die stumm neben ihm saß. Nottr und er hatten sie abwechselnd bis hierher getragen.
In Nyalas Augen war eine schreckliche Leere. Manchmal zuckte sie zusammen, vor allem dann, wenn das Geheul der blind gegen die Barrikade anrennenden Wölfe besonders laut war. Dann wieder bewegten sich ihre Lippen leicht, aber sie brachten keine Worte hervor.
Mythor hatte es aufgegeben, zu versuchen, sie anzusprechen. Sie reagierte nicht. Vielleicht quälte er sie dadurch nur. Sie war aus dem Bann des Dämons gerissen, nur das war wichtig. Sie würde viel Zeit brauchen, um wieder zu sich selbst zu finden - falls dies jemals möglich sein sollte. Mythor hatte ihr die Kette mit den Wolfszähnen und den Wolfspelz abgenommen und das Blut von ihrem Gesicht gewischt. Mehr konnte er jetzt nicht tun.
Kalathee saß ihr gegenüber. Ihre Augen verrieten Mitleid mit Nyala, die sie in ihrer wahren Schönheit nie gesehen hatte. Dennoch erkannte Mythor auch wieder eine Spur von Eifersucht in Kalathees Blick.
»Wenn es der Titanenpfad ist«, sagte Sadagar beharrlich, »muss er nach Süden bis zur Titanenstadt der Caer verlaufen.«
»Nach Gianton«, stimmte Mythor zu, den Blick auf die Steinquader im Boden gerichtet. Vielleicht irrten sie sich, und sie waren von den Unbekannten hier aus dem Fels gehauen worden, die einstmals die Katakomben geschaffen und bewohnt hatten. Für letzteres hatte es bisher keinen Hinweis gegeben. Vielleicht waren sie aber wirklich das Werk jener geheimnisvollen, uralten Baumeister, die den Titanenpfad angelegt hatten.
»Was interessiert es uns, ob es der Titanenpfad ist oder nicht«, knurrte Nottr. »Es ist ein Weg, und irgendwo muss es einen Ausgang nach oben geben, hoffentlich weit weg von Lockwergen.«
Mythor fragte sich, wie weit sie gelaufen waren. War über ihnen schon freies Gelände?
Bisher hatte überall, in den Katakombengewölben und selbst hier im Felskorridor, ein ungewisses Licht geherrscht, dessen Quelle verschiedene strahlende Steine waren, die als große Quader in den Wänden eingelassen waren. Mythor sah sich wieder in den Bergen, als er Schutz vor dem Gewittersturm gesucht und gesehen hatte, wie sich von dort, wo Blitze in den Titanenpfad eingeschlagen waren, grelles Licht den Pfad entlangfraß, von einem Quader zum anderen überspringend.
Es war wohl von Bedeutung, wer diese Katakomben und Gänge geschaffen hatte. Mythor erwartete selbstverständlich nicht, dass diese Unbekannten plötzlich leibhaftig vor ihnen auftauchten, aber sie mochten Fallen errichtet haben, um Unbefugte am Betreten ihres Reiches zu hindern.
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