Der Wolkenatlas (German Edition)
‹Wer legt sich schon gern mit Frau Heem-Young an!› Sie bat uns, ihr zügig zu folgen. Die Korridore waren durch Vorhänge abgetrennt, um äußerste Diskretion zu gewährleisten. Die Solare waren ausgeschaltet; Schalldämmer verschluckten Stimmen und Schrittgeräusche. Nachdem wir ihr eine Weile durch die schachbrettartig angelegten Flure gefolgt waren, schnipste Madame Ovid mit den Fingern, und ein stummer Gehilfe eilte herbei. Eine Tür öffnete sich zu einem hellen Studio, und unsere Stimmen kamen zurück. Im sterilen Licht des Solars glitzerten die Instrumente der Facedesignerzunft. Madame Ovid bat mich, die Kapuze abzunehmen. Mein Bedienerinnengesicht schien sie nicht zu überraschen, obwohl ich bezweifle, dass sie jemals den Fuß in ein Papa Song gesetzt hat. Sie fragte, wie viel Zeit wir für die Behandlung hätten.
Als Hae-Joo antwortete, dass wir in neunzig Minuten gehen müssten, verlor Madame Ovid ihre kalte Gelassenheit. ‹Was wollen Sie dann bei einer Künstlerin?›, erregte sie sich. ‹Nehmen Sie ein Wrigley und einen Lippenstift und machen Sie es selber! Hält Frau Heem-Young Tiger-Lily für einen Billigkosmetiksalon mit Vorher-Nachher-Kodaks im Schaufenster?›
Hae-Joo versicherte ihr eilig, dass wir keine Komplettverwandlung erwarteten, sondern nur kosmetische Korrekturen, mit denen sich die Augen der Eintracht oder flüchtige Blicke täuschen ließen. Neunzig Minuten seien in der Tat lächerlich kurz, aber genau deshalb benötige Frau Heem-Young die absolut Beste des Fachs.
Die stolze Facedesignerin erkannte die Schmeichelei, war aber gegen schöne Worte nicht immun. ‹Niemand›, prahlte sie, ‹sieht das wahre Gesicht hinter einem Gesicht so gut wie ich.› Sie drehte mein Gesicht ins Profil und sagte, sie könne Haut, Teint, Haare, Lider und Augenbrauen verändern. Die Iris würde sie in einem Reinblüterton färben. Außerdem könne sie mir Grübchen einsetzen und meine verräterischen Bedienerinnenwangenknochen entfernen. Auf alle Fälle würden wir aus den kostbaren neunundachtzig Minuten, die uns noch blieben, das Optimale herausholen.
Was ist aus Madame Ovids Kunst geworden? Für mich siehst du aus wie eine Sonmi, die frisch dem Bruttank entstiegen ist.
Die Eintracht gab mir für meinen Primetime-Auftritt vor Gericht mein altes Gesicht zurück. Der Star sollte dem Anlass entsprechend aussehen. Aber als ich Tiger-Lily mit schmerzendem Gesicht verließ, hätte nicht einmal Seher Rhee mich erkannt. Meine Augen waren vergrößert worden, die elfenbeinfarbenen Iris waren haselnussbraun und die Haare schwarz wie Ebenholz. Wenn Sie neugierig sind, Archivar, können Sie sich die Kodaks ansehen, die bei meiner Verhaftung gemacht wurden.
An der Rolltreppe wartete ein niedlicher Junge mit einem roten Luftballon. Wir folgten ihm in zwanzig Schritt Abstand zu einem belebten Parkplatz unter der Galleria. Als wir dort ankamen, war er verschwunden, aber der Ballon hing am Scheibenwischer eines Geländefords. Wir nahmen die Schnellstraße Richtung Osttor Eins.
Osttor Eins? Apis, der Unionsgeneral, hatte euch doch befohlen, zu Westtor Eins zu fahren.
Der General hatte seine Befehle mit dem Zusatz ‹Denkt gründlich über meine Worte nach› versehen. Dieses Krypto bedeutete: ‹Kehrt meine Befehle um.› West bedeutete Ost, Nord bedeutete Süd, ‹reist im Konvoi› bedeutete ‹reist allein›.
Das ist aber ein leichtsinnig einfaches Krypto.
Scharfsinnige Denker übersehen oft das Einfache. Während der Ford über die Schnellstraße raste, fragte ich meinen Begleiter, ob ‹Hae-Joo Im› sein richtiger Name sei. Der Unionler antwortete, Männer seines Berufs hätten keinen richtigen Namen. Die Ausfahrt führte in einem Bogen hinab zur Mautstation. Wir fuhren im Schneckentempo auf die wartende Fordschlange zu. Vor der Schranke streckte jeder Fahrer die Hand aus dem Ford, um seine Seele abtasten zu lassen. Willkürlich hielten Vollstrecker Fords zur Befragung an. ‹Im Schnitt jeden Dreißigsten›, murmelte Hae-Joo, ‹die Chancen stehen ziemlich gut.› Wir waren als Nächste an der Reihe. Hae-Joo legte seinen Zeigefinger auf den Scanner. Das Alarmsignal ertönte.
Die Schranke sauste nach unten.
Der Unionler zischte: ‹Verhalte dich unauffällig und lächle.›
Ein Vollstrecker kam auf uns zu und gab uns mit dem Daumen ein Zeichen. ‹Aussteigen.›
Hae-Joo gehorchte mit jungenhaftem Grinsen.
Der Vollstrecker fragte nach Name und Zielort.
Mein Begleiter gab eine meisterhafte
Weitere Kostenlose Bücher