Der Wolkenatlas (German Edition)
Hae-Joo. Die Berge auf der anderen Seite des Sees waren mit riesigen Konzernlogos bedeckt; ein Malachitdenkmal des Propheten Malthus blickte über ein Trockengebiet. Die Straße führte unter der Fordbahn Ch’ungju-Taegu-Pusan hindurch. Auf der Fordbahn wären es nur zwei Stunden bis Pusan, meinte Hae-Joo, aber er wollte lieber kein Risiko eingehen. Die Buckelpiste führte in messerscharfen Kurven ins Sobaeksan-Gebirge.
Hae-Joo versuchte nicht, in einem Tag bis Pusan zu kommen?
Nein. Gegen Stunde Siebzehn versteckte er den Ford auf einem verlassenen Holzplatz, und wir stiegen den Bergpfad hinauf. Das Gebirge faszinierte mich ebenso wie damals das BZ: Die Kalksteinfelsen waren mit Flechten bewachsen, aus den Felsspalten wuchsen junge Ebereschen. Die Luft roch nach Pollen und sprießendem Grün; Wolken zogen vorbei. Einst genomierte Motten schwirrten um unsere Köpfe herum wie Elektronen; die Logos auf ihren Flügeln waren im Laufe von Generationen zu Zufallssilben mutiert.
Ich fühlte mich, als wäre ich in einer Umgebung wiedergeboren worden, die für einen Service-Duplikanten so fremd war wie eine Alpenwiese für einen Nautilus.
Wir kamen an einen Felsvorsprung. Hae-Joo zeigte über den Abgrund und fragte, ob ich ihn sehen könnte.
Wen? Ich sah nur eine Felswand.
‹Sieh genauer hin›, drängte mich mein Begleiter, und aus der Felswand traten die gemeißelten Züge eines Riesen im Lotossitz hervor. Eine seiner schlanken Hände war anmutig zu einer bedeutungsschweren Geste erhoben. Bomben und die Elemente hatten sein rissiges Gesicht arg verunstaltet, aber wenn man genau hinsah, waren die einzelnen Züge noch zu erkennen. Es dauerte einen Moment, bis mir einfiel, an wen die riesenhafte Skulptur mich erinnerte: Es war Timothy Cavendish.
Hae-Joo lachte, als ich ihm davon erzählte. Er selbst hatte früher geglaubt, der Riese sei ein altertümlicher Demokrat oder ein Banditenkönig mit Hang zur Selbstdarstellung, doch in Wirklichkeit hatten die Präkonsumenten ihn als Gott verehrt, der ihnen durch den ewigen Kreislauf von Geburt und Wiedergeburt Erlösung schenkte. Und tatsächlich strahlte der verwitterte Riese aus einer längst vergangenen Zeit noch immer etwas Göttliches aus. Vielleicht können nur leblose Wesen so lebendig sein. Die Äbtissin, fuhr Hae-Joo fort, könnte uns mehr erzählen. Ich vermute, die SteinbruchCorp wird den Riesen zerstören, wenn die Berge abgetragen werden, Archivar.
Was war der Zweck dieser Xpedition in die Wildnis?
In jeder Wildnis gibt es Zivilisation. Hinter dem Gebirgskamm kamen wir an eine Lichtung. Wie sahen ein bescheidenes Kornfeld, Gemüsebeete, ein primitives Bewässerungssystem aus Bambus, einen Friedhof. In den Büschen hing Wäsche zum Trocknen. Ich hörte das Rauschen eines Wasserfalls. Hae-Joo führte mich durch einen schmalen Felsspalt in einen Innenhof, der von prunkvoll verzierten Häusern umgeben war, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Erst kürzlich hatte eine Xplosion einen Krater in die Steinplatten gesprengt, Holzplanken weggepustet und ein Ziegeldach zum Einstürzen gebracht. Eine Pagode hatte sich einem Taifun gebeugt und war auf ihren Zwilling gestürzt. Letzterer wurde eher vom wild rankenden Efeu aufrecht gehalten als durch geschicktes Tischlerhandwerk.
Hae-Joo erzählte mir, dass bis nach der großen Befriedung, als die Konzernokratie alle Präkonsumenten-Religionen auflöste, eine fünfzehn Jahrhunderte alte Abtei auf diesem Platz gestanden hatte. Jetzt diente der Ort als Unterschlupf für enteignete Reinblüter, die lieber ein ärmliches Leben in den Bergen führten, als ihr Dasein in den Kloaken der Untermenschen zu fristen.
Dann versteckte die Union ihre Botschafterin, ihren … ‹Messias› also in einer Kolonie von Gewohnheitsverbrechern?
‹Messias›. Was für ein bedeutender Titel für eine Papa-Song-Bedienerin.
Hinter uns hörte ich ein Scharren auf den Steinplatten: Eine zerknitterte, sonnenverbrannte Bäuerin humpelte, gestützt auf einen mit Encephnarben übersäten Jungen, in den Innenhof; der Junge war stumm. Er lächelte Hae-Joo schüchtern an; die Frau umarmte ihn so liebevoll, wie es in meiner Phantasie eine Mutter tut. Ich wurde der Äbtissin als ‹Frau Yoo› vorgestellt. Ihr eines Auge war milchig-blind, das andere funkelte wachsam; zusammen wirkten sie wie zwei Prüfer, die einen beobachteten. Sie nahm meine Hände fest in ihre; die Geste bezauberte mich. Ihr Gesicht war so alt wie das eines Senioren aus Cavendishs
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