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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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älteren Nonnen waren in den Leuchtturm gekommen, als vor fünfzig Jahren die Klöster per Gesetz geschlossen wurden. Die alte Äbtissin war damals Novizin gewesen, und weil die Eintracht meinte, sie sei noch jung genug für die Umerziehung, kam sie in ein Waisenhaus im Perlenstadt-BZ.
Ich fragte sie, ob Siddhartha so etwas wie ein Gott sei.
‹So etwas wie ein Gott, das ist eine treffende Bezeichnung›, antwortete sie. ‹Siddhartha macht uns weder glücklich, noch bestraft er uns; er beeinflusst weder das Wetter, noch schützt er uns vor dem Leid des Lebens. Aber er lehrt uns, wie wir unser Leid überwinden und auf einer höheren Stufe wiedergeboren werden.› Sie betete jeden Morgen zu ihm, ‹um ihm zu zeigen, dass ich es immer noch ernst meine›, auch wenn es unter den Kolonisten nur noch wenige Gläubige gab.
Ich vertraute ihr meine Hoffnung an, dass ich mit Siddharthas Hilfe in ihrer Kolonie wiedergeboren wurde.
Die ersten Sonnenstrahlen verliehen der Welt klare Konturen. Warum ich mir das wünsche, fragte die Äbtissin.
Ich brauchte eine Weile, bis ich meine Gefühle in Worte fassen konnte, aber die Äbtissin drängte mich nicht. Schließlich nannte ich ihr den Grund: Die einzigen Reinblüter, denen nicht die Gier in den Augen stand, waren die Kolonisten.
Die Äbtissin verstand. ‹Sobald die Konsumenten ihr Leben für sinnvoll erachten und zufrieden sind›, sagte sie, ‹ist die Plutokratie am Ende.› Deshalb waren die Kolonisten dem Staat ein solcher Dorn im Auge. Die Medien beschimpften sie als Schmarotzer, weil sie der WasserCorp Regen stahlen, den Patentinhabern der GemüseCorp ihre Gewinnanteile, der LuftCorp Sauerstoff. ‹Vielleicht kommt irgendwann der Tag›, spekulierte sie, ‹an dem der Vorstand beschließt, dass wir eine ernsthafte Konkurrenz zum Leben innerhalb der konzernokratischen Ideologie darstellen.› An diesem Tag, befürchtete sie, werde man die ‹Schmarotzer› in ‹Terroristen› umbenennen; es würde intelligente Bomben hageln, und die alte Abtei und ihre Tunnel würden im Feuer untergehen.
Ich merkte an, dass die Gemeinschaft zu ihrer Verstärkung auf die Mittellosen angewiesen sei, sich aber gleichzeitig unsichtbar verhalten müsse.
‹So ist es.› Ihre Stimme wurde so leise, dass ich mich zu ihr vorbeugte. ‹Ein Balanceakt, der wohl ebenso schwierig ist, wie sich als Reinblüterin auszugeben.›
     
    Woher wusste sie davon?
Ich habe sie nicht danach gefragt. Vielleicht gab es in meiner Unterkunft ein Guckloch, und jemand hatte mich beim Trinken meiner Seife beobachtet. Die alte Äbtissin sagte, die Erfahrung habe sie gelehrt, ihre Gäste im Auge zu behalten, sogar die Unionler und ihre Freunde. ‹Es verstößt gegen die Gastfreundschaft der alten Abtei›, entschuldigte sie sich, ‹aber unsere jungen Gemeinschaftsmitglieder bestehen darauf, dass wir wachsam bleiben, besonders in einer Zeit, in der sich jeder durch den Gang zum Facedesigner beliebig verwandeln kann.›
     
    Warum war sie so offen zu dir?
Um ihre Solidarität zu bekunden, vielleicht; ich weiß es nicht. Unter den zahllosen Verbrechen der Juche, sagte die Äbtissin, sei die Erschaffung einer ‹Subsubschicht aus Sklaven› das abscheulichste.
     
    Sprach sie allgemein, oder meinte sie etwas Bestimmtes?
Das erfuhr ich erst am nächsten Abend. Vom Hof drang Pfannengeklapper herüber; der Frühstücksdienst begann seine Arbeit. Die Äbtissin spähte durch den Felsspalt und schlug einen heiteren Ton an. ‹Und wer ist dieser kleine Kojote hier?›
Der stumme Junge trottete auf uns zu und setzte sich lächelnd zu Füßen der Äbtissin. Im Osten lugte die Sonne um die Ecke und gab den Blumen ihre zarte Farbe zurück.
     
    Dein zweiter Tag als Flüchtling hatte begonnen.
Hae-Joo frühstückte Kartoffelkuchen mit Feigenhonig; anders als am Abend zuvor drängte mir niemand das Reinblüteressen auf. Dann verabschiedeten wir uns. Zwei, drei Teenager weinten, weil Hae-Joo sie verließ; zu meinem großen Vergnügen warfen sie mir hasserfüllte Blicke zu. In mancher Hinsicht war Hae-Joo ein abgebrühter Revolutionär; in anderer war er noch ein Junge. Die Äbtissin flüsterte: ‹Ich werde für euch zu dem alten Gauner beten.› Unter dem wachsamen Blick ihres Gottes verließen wir den Gipfel und wanderten durch den geräuschvollen Wald. Der Ford stand unberührt in seinem Versteck.
Bis Yōngju kamen wir recht zügig voran. Auf der Gegenfahrbahn begegneten uns mit Holz beladene Sattelschlepper; mir fiel auf, dass die

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