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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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Zeit. ‹Willkommen›, sagte sie, ‹herzlich willkommen.›
    Hae-Joo erkundigte sich nach dem Bombenkrater.
Die Zeloten der Lüfte seien offenbar am Zahnen, antwortete die Äbtissin; einen Monat zuvor war eine Chinook aufgetaucht und hatte ohne Vorwarnung eine Granate abgeworfen; es hatte mehrere Verletzte und einen Toten gegeben. Vielleicht ein Racheakt, spekulierte sie, vielleicht ein Pilot mit Langeweile oder aber ein Bauunternehmer, der den Platz als Standort für eine Xec-Wellnessfarm entdeckt hatte und die Kolonisten vertreiben wollte. ‹Wer weiß?› Sie seufzte.
Mein Begleiter versprach ihr sein Möglichstes, um es herauszufinden.
     
    Wer waren diese illegalen Siedler? Untermenschen? Terroristen? Oder Unionler?
Jeder Kolonist hatte seine eigene Geschichte. Ich begegnete uigurischen Dissidenten, von der Dürre vertriebenen Bauern aus dem Ho-Chi-Minh-Delta, einst angesehenen BZ-Bewohnern, die mit dem Staat in Konflikt geraten waren; es gab arbeitsunfähige Abweichler und durch Geisteskrankheit Verarmte. Das jüngste Mitglied der fünfundsiebzigköpfigen Kolonie war neun Wochen alt; das älteste, die Äbtissin, sechsundachtzig – obwohl ich ihr auch dreihundert geglaubt hätte.
     
    Aber … wie konnten sie ohne Franchises und Gallerias überleben? Was aßen sie? Was tranken sie? Was war mit Strom? Unterhaltung? Wie konnte eine Mikrogesellschaft ohne Hierarchie und Vollstrecker funktionieren?
Ihre Nahrung kam aus dem Wald und aus dem Garten; Trinkwasser aus dem Wasserfall. Plastik und Metall für Werkzeug holten sie sich auf Mülldeponien. Ihr ‹Schulsony› wurde über eine Wasserturbine betrieben. Die Nachtsolare wurden bei Tag wieder aufgeladen. Zur Unterhaltung hatten sie sich selbst; Konsumenten können ohne 3D und AdV nicht leben, aber die Menschen kamen früher ohne aus und tun es auch heute noch. Vollstreckung? Bestimmt gab es Konflikte, aber die Kolonisten schätzten ihre Unabhängigkeit und wollten sie um jeden Preis gegen Faulenzer innerhalb der Gemeinschaft und Ausbeuter von außen verteidigen.
     
    Wie verhielt es sich mit den Gebirgswintern?
Sie überstanden sie, wie es die Nonnen fünfzehn Jahrhunderte lang getan hatten: mit Hilfe von Planung, Sparsamkeit und innerer Stärke. Die Kolonie war über einer Höhle errichtet worden, die Banditen während der Annexion durch die Japaner erweitert hatten. Die Tunnel boten Schutz vor dem Winter und den Aeros der Eintracht.
Es war kein idyllisches Utopia. Ja, die Winter sind hart, die Regenzeiten unbarmherzig, die Ernte ist anfällig für Krankheiten. In den Höhlen wimmelt es von Ungeziefer, und nur wenige Kolonisten werden so alt wie Supraschicht-Konsumenten. Ja, die Kolonisten streiten sich und trauern wie alle Leute. Aber sie tun es in der Gemeinschaft. In Nea So Copros gibt es keine Gemeinschaft. Es gibt nur den Staat.
     
    Und welches Interesse hatte die Union an dem Kloster?
Die Union versorgt die Kolonie mit Solaren und anderen Geräten; die Kolonie bietet der Union einen geheimen Unterschlupf weitab vom nächsten Auge. Ich wachte kurz vor Morgengrauen auf und kroch aus meinem Schlaftunnel zum Ausgang der Höhle. Eine Wache bereitete einen Stimulintrank; sie hob das Moskitonetz an und warnte mich vor den Kojoten, die unter den alten Abteimauern nach Aas suchten. Ich versprach ihr, in Hörweite zu bleiben, und zwängte mich zwischen den engen Felsen hindurch auf den schwarzgrauen Balkon.
Der Berg fiel steil ab; der Wind trug Tierlaute aus dem Tal herauf, Schreie, Rufe, Knurren, Schnüffeln, aber ich konnte kein einziges Geräusch identifizieren. Gebirgssterne unterscheiden sich von den armseligen Punkten über den BZs: Gebirgssterne hängen prall am Himmel und spenden Licht. Hinter mir bewegte sich ein Felsblock. ‹Ach, Frau Yoo›, sagte die Äbtissin, ‹auch eine Frühaufsteherin.›
Ich begrüßte sie höflich.
Die Kolonisten, erzählte sie, sahen es nicht gerne, wenn sie vor Sonnenaufgang umherstreifte, aus Angst, sie könnte über den Rand des Abgrunds treten. Sie zog eine Pfeife aus dem Ärmel, stopfte sie und zündete sie an. Für meine junge Lunge sei Tabak Gift, sagte sie, in ihrem Alter aber spiele das keine Rolle mehr. Der Rauch roch würzig wie Leder.
Ich fragte sie nach der Figur im Steilhang.
‹Der alte Gauner›, sagte sie mit einem Nicken und erzählte, dass Siddhartha viele Namen hatte, die heute alle vergessen waren. Ihre Vorgängerinnen hatten alle seine Namen und Predigten noch auswendig gekonnt, aber sie und die

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