Der Wolkenatlas (German Edition)
Kinder zusätzlich drei Stunden Unterweisung nach einem ihrem Stande gemäßen Lehrplan (obgleich Daniel Wagstaff gegenüber den Bemühungen seiner Erzieher gefeit zu sein scheint), derweil ihre dunklen Spielgefährten bis zum täglichen Abendgottesdienste ihren Eltern auf die Felder folgen.
Mir zu Ehren wurde eine kleine Vorstellung gegeben. Zehn Mädchen, fünf weiße u. fünf schwarze, trugen je eines der heiligen Zehn Gebote vor. Danach kam ich in den Genuß von «O Gott, du höchster Gnadenhort», von Mrs. Horrox auf einem Claviere begleitet, welches seine glanzvolleren Tage bereits hinter sich gelassen hatte. Die Mädchen wurden sodann aufgefordert, an den Besucher Fragen zu richten, aber es hoben nur weiße junge Damen ihre Hand. «Sir, kennen Sie George Washington?» (Leider nein.) «Wie viele Pferde ziehen Ihren Wagen?» (Mein Schwiegervater unterhält vier, aber ich bevorzuge den Ritt auf einem Gaule.) Das kleinste Mädchen frug mich: «Bekommen Ameisen Kopfweh?» (Wäre die Fragerin über das Kichern ihrer Klassenkameradinnen nicht in Thränen ausgebrochen, würde ich noch jetzt dort stehen, um über diese Frage nachzugrübeln.) Ich forderte die Schülerinnen auf, nach der Bibel zu leben u. den Älteren zu gehorchen; dann verabschiedete ich mich. Mrs. Horrox erklärte mir, Scheidende seien früher mit Plumeria-Girlanden beschenkt worden, aber die Missionsältesten würden Blumengebinde für unsittlich erachten. «Wenn wir heute Girlanden zulassen, wird morgen getanzt. Wenn morgen getanzt wird …» Sie erschauderte.
Welch ein Jammer!
Um die Mittagszeit hatten die Männer die Fracht verladen, u. die Prophetess verholte bei ungünstigen Winden aus der Bucht. Henry u. ich haben uns in die Messe zurückgezogen, um der Gischt u. den Flüchen auszuweichen. Mein Freund schreibt an einem Epos in Byronschen Stanzen, betitelt mit «Die wahre Geschichte des Autua, des Letzten der Moriori», u. unterbricht mich beim Schreiben meines Tagebuches, um danach zu fragen, was sich besser auf «Ströme von Blut» reime: «Dreck am Huth» oder «Robin Hood»?
Ich rufe mir die Verbrechen ins Gedächtnis, die Mr. Melville in seinem Berichte über die Taipi den pacifischen Missionaren zur Last legt. Kann es nicht sein, daß es, so wie bei Köchen, Ärzten, Notaren, Geistlichen, Capitainen u. Königen, auch unter den Evangelisten Gute u. Böse giebt? Vielleicht wären die Inder der Gesellschafts-Inseln u. der Chathams am glücklichsten, wenn man sie «unentdeckt» ließe, aber dies zu verkünden hieße den Mond anbellen. Sollten wir nicht eher dem Bemühen Mr. Horrox’ u. seiner Brüder, den Indern bei ihrem Aufstiege auf der «Civilisations-Leiter» beizustehen, unseren Applaus bekunden? Ist nicht der Aufstieg ihre einzige Erlösung?
Weder kenne ich die Antwort darauf, noch weiß ich, wohin die Gewißheit meiner jungen Jahre entfleucht ist.
Während ich die Nacht im Pfarrhause der Horrox’ verbrachte, ist ein Einbrecher in meinen Sarg eingedrungen, u. als der Schurke den Schlüssel zu meiner Seekiste nicht finden konnte (ich trage ihn um meinen Hals), versuchte er, das Schloß aufzubrechen. Hätte er Erfolg gehabt, wären Mr. Busbys Vertragsunterlagen u. Urkunden jetzt Futter für die Seepferdchen. Wie wünschte ich mir, unser Capitain wäre aus dem gleichen Holze geschnitzt wie der vertrauenswürdige Cpt. Beale! Ich wage es nicht, Cpt. Molyneux meine Werthgegenstände anzuvertrauen, u. Henry riet mir dringend davon ab, in das Wespennest zu stechen u. die versuchte Strafthat gegenüber Mr. Boerhaave anzusprechen, denn eine Untersuchung würde jeden Dieb an Bord ermuntern, sein Glück zu versuchen, sooft ich mich abwende. Vermuthlich hat er damit recht.
Montag, 16. December ~
Heute mittag, während die Sonne an ihrem höchsten Punkte stand, wurde jenem törichten, als «Äquatortaufe» bekannten Brauche gefrönt, bei dem die sogenannten Jungfrauen (diejenigen Besatzungsmitglieder, die zum ersten Male den Äquator kreuzen) so lange derben Späßen ausgesetzt u. unter Wasser getaucht werden, wie es die Teerjacken, welche die Ceremonie leiten, für angebracht halten. Der vernünftige Cpt. Beale verschwendete während meiner Reise nach Australien keine Zeit mit solchem Humbug, aber die Seeleute auf der Prophetess wollten sich nicht um ihr Vergnügen bringen lassen. (Ich war der Meinung, daß für Mr. Boerhaave jegliche Form von «Vergnügen» ein Greuel sei, bis ich sah, welche
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