Der Wolkenpavillon
sich zu reden. Und was Joju angeht - ich könnte Ärger mit dem Shōgun bekommen, wenn ich diesen Scharlatan nicht in Ruhe lasse.«
»Das ist allerdings ein Problem«, sagte Hirata nachdenklich. »Ich brauche Euch ja nicht daran zu erinnern, dass Ihr zuerst dem Shōgun verpflichtet seid, nicht Eurer Cousine oder Eurem Onkel. Und Ihr wisst, was uns droht, wenn Ihr den Unwillen des Herrschers auf Euch zieht.«
Das wusste Sano nur zu gut. Der Shōgun hatte ihm und seiner Familie oft genug mit der Todesstrafe gedroht. »Es muss einen Weg geben, unsere Pflichten gegenüber dem Shōgun zu erfüllen und trotzdem die Ermittlungen zu Ende zu führen.«
»Und bis wir herausgefunden haben, wie wir das anstellen sollen, haben wir drei Verdächtige, an die wir nicht herankönnen.« Hirata seufzte und fügte zögernd hinzu: »Und da ist noch etwas ...«
Sano horchte auf. »Und was?«
Hirata berichtete von seinem unheimlichen Erlebnis am Shinobazu-See. Er erzählte, dass der Unbekannte begonnen hatte, ihm nachzustellen, dass er bereits in sein Anwesen eingedrungen sei und sogar bei der Vernehmung Ogitas in der Nähe gewesen war. Als Hirata schließlich gestand, dass er Ogitas jugendlichen Diener erstochen hatte, stieg Entsetzen in Sano auf, nicht nur weil Hirata den unschuldigen Jungen getötet hatte, sondern wegen der beängstigenden Fähigkeiten des Unsichtbaren.
»Wer immer dieser Unbekannte sein mag - er hat offenbar die Macht, anderen Menschen seinen Willen aufzuzwingen, sodass sie Dinge tun, die sie normalerweise niemals tun würden«, sagte Sano. »Du bist in großer Gefahr.«
»Das wiegt nicht auf, was ich getan habe«, erwiderte Hirata, und seine stoische Miene konnte nicht verbergen, wie elend ihm zumute war. »Und ich kann nicht versprechen, dass es nicht wieder passiert.« Er schwieg kurz, dann sagte er mit leiser Stimme: »Deshalb bitte ich Euch, mich von der Ermittlungsarbeit zu entbinden.«
Sano würde Hiratas Hilfe schmerzlich vermissen, das wusste er. Und es schmerzte ihn, seinen besten Freund leiden zu sehen, weil der seinen Pflichten gegenüber ihm, seinem Herrn, nicht mehr nachkam. Doch Sano wusste, dass Hirata recht hatte. »Also gut«, sagte er. »Ich befreie dich von sämtlichen Pflichten im Zusammenhang mit deinen und meinen Ermittlungen, bis du herausgefunden hast, wer der Unbekannte ist, der dir nachstellt, und bis dieses Problem aus der Welt geschafft ist. Bis dahin werden deine Ermittler deine Aufgaben übernehmen. Sollte der Shōgun sich nach dir erkundigen, werde ich ihm sagen, du seist erkrankt.«
Auf Hiratas Gesicht mischten sich Verzweiflung, Scham und Schmerz, doch er verneigte sich demütig. »Dann darf ich jetzt gehen?«
Sano nickte.
Nachdem Hirata gegangen war, begab Sano sich zu seiner Familie. Vielleicht hatte Reiko Neuigkeiten über Chiyo. Sano fand die kleine Akiko schlafend im Bett, während Masahiro bäuchlings im Salon lag und zeichnete.
»Was für eine schöne Kuh«, sagte Sano.
»Das ist eine Katze!«, fuhr Masahiro auf. »Siehst du das denn nicht?«
»Jetzt, wo du es sagst«, erwiderte Sano. »So eine schöne Katze konnte ich in deinem Alter nicht zeichnen. Und? Was hast du heute so gemacht?«
Während Masahiro vom Schulunterricht erzählte, schweiften Sanos Gedanken zu den Ermittlungen. »Was ist eigentlich eine Scheidung?«, wollte Masahiro unvermittelt wissen.
»Wenn ein Mann und eine Frau, die verheiratet sind, sich trennen«, antwortete Sano geistesabwesend.
»Und was ist Inzest?«
Mit einem Mal hatte Masahiro die ungeteilte Aufmerksamkeit seines Vaters. »Wo hast du denn dieses Wort gehört?«
»Weiß ich auch nicht ... irgendwo.« Masahiro kritzelte weiter auf seinem Malblock herum. »Und was ist das?«
»Nun ... am besten, du fragst deine Mutter«, sagte Sano.
»Die ist nicht zu Hause.«
»Wo ist sie denn?«
»Bei deiner Cousine Chiyo. Sie wollte die Nacht über bei ihr bleiben.«
Sano hörte Donnergrollen, ging zur Tür und öffnete. Dann blickten er und Masahiro hinaus in den Regen, der von den Dachvorsprüngen prasselte. »Nun, wenigstens muss
sie dann nicht durch dieses Wetter«, murmelte Sano.
*
Über dem Anwesen der Kumazawa brannten Blitze ein Geflecht aus weißglühenden Adern in den Himmel. Ein wahrer Sturzbach ergoss sich über die Gebäude. Donner grollte. Die Wachposten drängten sich unter den Dächern der Tore, während die Soldaten, die auf dem Anwesen Streife gingen, Zuflucht unter den Dachvorsprüngen der Villa und von deren
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