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Der Wolkenpavillon

Der Wolkenpavillon

Titel: Der Wolkenpavillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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Außengebäuden suchten. Niemand bemerkte den Mann, der auf die hintere Mauer kletterte. Blitze rissen seine kauernde Gestalt für ein paar Augenblicke aus der Dunkelheit, bevor der Himmel wieder düster wurde und der Donner krachte. Als ein weiterer Blitz aufzuckte, war der Mann verschwunden, und der nachfolgende Donnerschlag übertönte das Geräusch, als seine Füße hinter der Mauer im Kies landeten.
    *

    In den Frauengemächern spielte Reiko mit Chiyo und Fumiko Karten. Die Luft im Zimmer war stickig; die Türen, die zum Garten führten, waren wegen des Unwetters geschlossen. Während Reiko die Karten austeilte, lauschte sie dem Regen, der auf die Dachziegel prasselte. Hinter den papierenen Fensterbespannungen zuckte das Licht der Blitze auf. Donner grollte.
    Chiyo, blass und angespannt, lächelte Reiko an. »Ich bin froh, dass Ihr hier seid.«
    Reiko erwiderte das Lächeln. »Ich auch.«
    Fumiko beteiligte sich kaum an den Gesprächen, sie schien sich mehr für das Spiel zu interessieren. Sie nahm das Blatt auf, das Reiko ihr hingeschoben hatte. Die Karten zeigten Kirschbäume, Kraniche, die unter einer roten Sonne standen, und andere Motive. Reiko bemerkte, dass Fumiko jedes Mal gewann. Als sie Fumiko genauer beobachtete, sah sie, wie das Mädchen verstohlen Karten in den Ärmel ihres Kimonos schob oder daraus hervorzog. Fumiko schummelte! Wahrscheinlich hatte sie es von den Ganoven ihres Vaters gelernt. Dennoch beschloss Reiko, sie nicht zu tadeln, zumal Chiyo nichts davon zu bemerken schien. Sollte das arme Ding ruhig ein bisschen Spaß haben. Es gab Schlimmeres, als beim Kartenspiel zu mogeln.
    Besonders eine Sache machte Reiko zu schaffen. Den ganzen Tag schon fragte sie sich, wie sie dieses heikle Thema bei Chiyo und Fumiko anschneiden sollte, aber sie konnte es nicht länger hinausschieben. »Es gibt da etwas, was ich euch sagen muss«, begann sie. »Die Nonne, die entführt worden war ... sie hatte ... eine Krankheit.«
    »Wirklich?«, sagte Chiyo, deren Neugier sich in Grenzen zu halten schien. »Was hatte sie denn?«
    »Sie hatte ...« Reiko senkte verlegen den Kopf und starrte auf ihre Hände. »Sie hatte die Krankheit von dem Mann, der sie missbraucht hat.«
    Als Chiyo begriff, was Reiko meinte, stockte ihr vor Entsetzen der Atem. Sie blickte zu Fumiko hinüber, die ihre Karten sortierte und gar nicht zuzuhören schien. »Fumiko fehlt nichts«, sagte sie schließlich. »Sonst wäre es mir aufgefallen, als ich sie gebadet habe. Aber ich selbst ...« Sie stockte.
    »Er hat Euch angesteckt?« Reiko erschrak bis ins Mark.
    »Nein«, flüsterte Chiyo, »aber ...«
    Aber es war noch zu früh, um sagen zu können, ob der Vergewaltiger sie mit der Krankheit angesteckt hatte oder nicht. »Sobald Euch etwas Ungewöhnliches auffällt, müsst Ihr zu einem Arzt«, drängte Reiko.
    »Ja, natürlich«, erwiderte Chiyo kläglich.
    Reiko war froh, dieses Thema endlich angesprochen zu haben, und rieb sich die müden Augen. Vor ungefähr zwei Stunden hatten die Tempelglocken in Asakusa zur Mitternacht geläutet. Bis auf die drei Frauen waren alle Bewohner des Hauses längst zu Bett gegangen.
    »Ihr braucht nicht aufzubleiben, wenn Ihr müde seid, Reiko -san «, sagte Chiyo.
    »Ach, es geht schon«, erwiderte Reiko. Chiyo hatte ihr anvertraut, dass sie und Fumiko deshalb so lange aufblieben, weil sie von Albträumen geplagt wurden. Daraufhin hatte Reiko beschlossen, bei ihnen zu bleiben und ihnen Gesellschaft zu leisten.
    Als Reiko erneut die Karten austeilte, spürte sie plötzlich einen kalten Luftzug im Nacken. Die Flamme in der Lampe flackerte. Unvermittelt wurde das Rauschen des Regens lauter, und der Geruch von nassem Gras drang ins Zimmer. Fumiko, die gegenüber von Reiko saß, ließ die Karten fallen und starrte mit weit aufgerissenen Augen über Reikos rechte Schulter hinweg. Auf dem Gesicht des Mädchens spiegelte sich blankes Entsetzen.
    Reiko drehte sich um. Ein Mann stand in der geöffneten Tür. Seine schwarze Kleidung triefte vor Nässe. Er trug eine Kapuze, in die Schlitze für die Augen und den Mund geschnitten waren. Nun hob er ein Schwert, das er mit beiden Händen hielt, und stürmte auf die Frauen los.
    Chiyo schrie.
    Fumiko sprang auf und wollte fliehen, trat aber auf den Saum ihres Kimonos und fiel hin.
    Reiko packte ihren Dolch, der neben ihr auf dem Boden lag. Normalerweise trug sie die Waffe in einer Lederhülle, die sie sich um den Unterarm schnallte, unter dem Kimono verborgen, doch an

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