Der Wolkenpavillon
rachsüchtigen Onkel von den Verdächtigen fernhalten, um sich nicht wieder in Schwierigkeiten zu bringen.
»Nanbu, Ogita und Joju.« Kumazawa sprach die drei Namen leise aus und schüttelte den Kopf. Offenbar konnte er nicht fassen, dass einer dieser drei angesehenen Männer ein Entführer und Vergewaltiger sein könnte. »Wenn einer von ihnen die Ochsenkarrenfahrer beauftragt hat, meine Tochter zu entführen und zu ihm zu bringen, und wenn er nun auch noch den Meuchelmörder geschickt hat, um Chiyo zu töten, wie soll ich dann zu meiner Rache kommen?« Verzweiflung schlich sich in seine Stimme. »Wenn ich an Nanbu herankommen will, muss ich zuerst seine Hunde töten. Bei Ogita habe ich Schulden; er könnte meine Familie in den Ruin treiben. Und Joju ist ein Günstling des Shōgun.« Er verstummte und fügte bitter hinzu: »Ich komme ebenso wenig an diese drei Männer heran wie Ihr. Wäre ich allein, würde ich es versuchen, denn es ist mir gleich, was mit mir geschieht, aber ich muss an meine Familie denken.«
Sano war mehr als einmal in der gleichen Lage gewesen. Auch er war schon so oft zur Untätigkeit verdammt gewesen, weil die Strafe, die ihm auferlegt worden wäre, auch seine Familie getroffen hätte. »Ihr dürft die Hoffnung nicht aufgeben«, sagte er. »Wer immer der Schuldige ist - und ich bin sicher, mindestens einer von den dreien ist es -, er soll nicht ungestraft davonkommen.«
»Er soll nicht, aber er wird.« Major Kumazawa blickte Sano entschlossen an. »Weil die Ermittlungen ab sofort eingestellt werden.«
Es war schon mehr als einmal vorgekommen, dass jemand versucht hatte, Sanos Ermittlungen aufzuhalten - bisher noch jedes Mal vergeblich. Er schüttelte den Kopf. »Ihr seid nicht befugt, die Nachforschungen für abgeschlossen zu erklären.«
»Oh doch«, erwiderte Major Kumazawa. »Ich hatte Euch um Hilfe gebeten. Jetzt ziehe ich meine Bitte um Hilfe zurück.«
»Ihr könnt mich nicht entlassen wie einen Diener, mit dem Ihr unzufrieden seid!« In Sano loderte Zorn auf. »Ich werde die Ermittlungen fortsetzen, bis der Täter seiner gerechten Strafe zugeführt wurde.«
»Auch auf die Gefahr hin, dass ein weiterer Meuchelmörder geschickt wird, dem das gelingt, was der da nicht geschafft hat? Selbst wenn es bedeutet, dass meine Tochter sterben könnte?«
»Ein Vergewaltigungsopfer ist bereits gestorben. Die Nonne«, erinnerte Sano seinen Onkel. »Dieser Frau muss Gerechtigkeit widerfahren.«
»Bei allen Dämonen, was geht diese Frau mich an?«, stieß Kumazawa wütend hervor.
»Solange der Vergewaltiger und die Entführer auf freiem Fuß sind, sind noch weitere Frauen in Gefahr«, entgegnete Sano.
»Auch diese Frauen sind mir gleich.« Kumazawa ließ sich nicht beirren. »Ihr müsst die Ermittlungen einstellen.«
Unter anderen Umständen hatte Sano den Wunsch seines Onkels respektiert. »Ich mache weiter, ob mit oder ohne Euren Segen«, sagte er kalt. »Vergesst nicht, dass auch meine Frau angegriffen wurde. Für mich ist das Risiko genauso groß wie für Euch.«
Major Kumazawa starrte ihn an. »Je länger ich Euch kenne, desto mehr fällt mir Eure Ähnlichkeit mit Eurer Mutter auf. Ihr seid genauso starrsinnig, dickköpfig und unbelehrbar, wie sie es gewesen ist. Also gut, es ist Eure Entscheidung. Aber vergesst nicht: Jeder muss die Konsequenzen seines Handelns tragen.«
Sano, den der verbale Angriff auf seine Mutter mehr erzürnte als der Seitenhieb gegen ihn selbst, erwiderte: »Starrsinn und Dickköpfigkeit liegen in der Familie. Offenbar haben nicht nur meine Mutter und ich diese Eigenschaften, sondern auch ...«
Sano verstummte unvermittelt. Major Kumazawas letzter Satz hatte eine vergessen geglaubte Erinnerung in ihm wachgerufen. Wie bei seinem ersten Besuch auf diesem Anwesen sah er vor seinem geistigen Auge ein Bild aus der Vergangenheit: Major Kumazawa und seine Gemahlin standen auf der Veranda. Sano hörte die flehende Stimme der Frau, und er verspürte die gleiche Benommenheit und Übelkeit wie damals. Diesmal aber verdichteten sich die verschwommenen Eindrücke zu einer Erinnerung von unglaublicher Klarheit.
»Das habt Ihr damals auch zu meiner Mutter gesagt.«
Verwirrt fragte Kumazawa: »Was meint Ihr?«
Nun stürmten die Erinnerungen auf Sano ein, als wäre unvermittelt eine Tür zur Vergangenheit aufgerissen worden. »Ich war hier auf diesem Anwesen. Meine Mutter hatte mich hergebracht. Ich muss vier oder fünf Jahre alt gewesen sein. Ich hatte hohes Fieber. Sie
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