Der Wolkenpavillon
herauszog und entrollte, sah sie die Unterschrift, die in roter Tusche unter den schwarzen Schriftzeichen stand.
»Die Nachricht ist von Chiyo.« Als Reiko das Schreiben las, hob sie erstaunt die Augenbrauen. »Chiyo schreibt, Fumiko habe das Anwesen der Kumazawa verlassen. Ihr Vater sei gekommen und habe sie mitgenommen. Das kann ich nicht glauben! Er hat sich doch mit Händen und Füßen gewehrt, als Fumiko zu ihm zurückwollte.«
Als Reiko weiterlas, verwandelte ihr Erstaunen sich in Besorgnis. »Chiyo schreibt, dass es Ärger gegeben hat. Sie bittet mich, sofort zu ihr zu kommen. Sie wird mir alles erzählen, sobald ich bei ihr bin.« Reiko hob den Blick und schaute Tanuma ängstlich an. »Was mag da geschehen ein? Was soll ich tun?«
»Euer Gemahl will nicht, dass Ihr noch einmal zum Anwesen der Kumazawa geht«, sagte Tanuma.
Reiko nickte. Sie wusste, dass Sano verärgert sein würde. »Aber Chiyo braucht mich«, sagte sie. »Ich kann ihr meine Hilfe nicht verweigern.«
»Major Kumazawa wird Euch bestimmt nicht ins Haus lassen, nicht einmal dann, wenn Chiyo Euch gebeten hat, zu ihr zu kommen«, meinte Tanuma.
»Dieses Risiko muss ich eingehen«, erwiderte Reiko. »Begleitet Ihr mich?«
»Wenn Ihr es wünscht.« Tanuma arbeitete nun schon lange genug für Reiko, um zu wissen, dass Diskussionen sinnlos waren, wenn sie einen Entschluss gefasst hatte.
Als sie sich kurz darauf auf den Weg machten, hoffte Reiko inständig, dass sie nicht zu spät kamen.
*
Sano und seine Leute sammelten sich auf der Straße vor Ogitas Haus. Sano befahl ein paar Männern, Ogita im Auge zu behalten und ihm auf Schritt und Tritt zu folgen; es war immer noch nicht auszuschließen, dass der Reisgroßhändler die Gemahlin des Shōgun irgendwo gefangen hielt.
»Sollen wir die beiden anderen Villen Ogitas durchsuchen, Sano -san ?«, fragte Fukida.
»Nein«, antwortete Sano. »Ogita hätte uns nichts davon gesagt, wenn er die Gemahlin des Shōgun tatsächlich in einer dieser Villen verstecken würde. Ich nehme an, er besitzt noch weitere Häuser.«
»Sollen wir das überprüfen?«, fragte Fukida.
Sano wusste, dass ihnen dann eine langwierige Suche in den riesigen Aktenbergen bevorstehen würde, in denen die Grund- und Hauseigentümer Edos verzeichnet waren. »Nein. So viel Zeit haben wir nicht. Wir müssen uns die beiden anderen Verdächtigen vornehmen.«
Als sie die Straße hinunterritten, sagte Marume: »Ich habe gehört, was Ogita über die Shunga gesagt hat. Er hat recht - viele Männer besitzen solche Bücher. Allein in den Kasernen gibt es jede Menge davon.«
Es hatte auch damit zu tun, dass in Edo viel mehr Männer als Frauen lebten. Die meisten dieser Männer waren Gefolgsleute von Samurai, die entweder ledig waren oder die ihre Frauen auf den Ländereien ihrer Herren zurückgelassen hatten. Manche waren Händler, Handwerker und Arbeiter, die nach Edo gekommen waren, um hier ihr Glück zu suchen, und die sich keine Familie leisten konnten. Deshalb blühten die Geschäfte der Bordellbetreiber, und der Handel mit erotischer Kunst florierte. Selbst reiche Männer, die jede Frau haben konnten, die sie begehrten, waren eifrige Leser von Shunga.
»Ich habe mir Ogitas Buch von vorne bis hinten angeschaut«, sagte Sano. »Sämtliche Bilder zeigen Männer, die Frauen vergewaltigen. Selbst wenn Ogita die Gemahlin des Shōgun nicht entführt hat, halte ich ihn für den Täter bei mindestens einem der drei anderen Verbrechen.«
Aber das galt auch für Joju und Nanbu, die beiden anderen Verdächtigen.
»Und wohin reiten wir jetzt?«, wollte Fukida wissen.
»Wir gehen noch einmal zu Joju, dem Geisteraustreiber.«
36.
Eine Gruppe Bettler in abgerissener Kleidung lungerte auf der Straße vor dem Tempel des Geisteraustreibers herum. Als sie sahen, dass Sano und seine Leute näher kamen, streckten sie die Hände aus und bettelten um Almosen, wenn auch ohne große Hoffnung. Sano und seine Leute begaben sich zu der Gebetshalle, in der sie Joju zwei Tage zuvor bei der Geisteraustreibung beobachtet hatten. Wieder versuchten die Mönche an der Tür, ihnen den Zutritt zu verwehren.
»Seine Heiligkeit möchte nicht gestört werden.«
»Versucht uns aufzuhalten, und ihr und dieser Schwindler werdet mehr als nur gestört«, sagte Marume.
Die Drohung wirkte. Sano und die Ermittler wurden in die Halle gelassen, während Sanos Soldaten auf dem Tempelgelände ausschwärmten und sich die anderen Gebäude vornahmen. Sano stellte fest, dass
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