Der Wolkenpavillon
dass Ihr ihn hasst?«, fragte Sano.
Ihr Lächeln wich so jäh einer hasserfüllten Fratze, dass Sano unwillkürlich einen Schritt zurückwich. »Er hat mein Leben zerstört.«
»Wie?«
»Als Mädchen war ich von bösen Geistern besessen«, sagte Okitsu. Der Hass verschwand wieder aus ihrem Gesicht, doch ein Schatten davon blieb wie eine stumme Warnung. »Ich habe ihre Stimmen gehört.« Sie hob den Kopf, als würde sie nach diesen Stimmen lauschen. »Sie haben mir Dinge erzählt.«
»Was für Dinge?«
»Sie sagten mir, die Leute wären hinter mir her. Sie sagten mir, ich solle sie beschimpfen und schlagen. Also habe ich es getan, sonst wären die Stimmen immer lauter geworden. Sie wären gar nicht mehr verstummt.« Sie presste die Hände auf die Ohren. »Da haben meine Eltern mich zu Joju gebracht und ihn gebeten, die Geister aus mir auszutreiben.«
Okitsu ließ die Hände wieder sinken. »Aber sie hatten nicht genug Geld, um ihn zu bezahlen«, fuhr sie fort. »Daraufhin sagte Joju, ich könnte als seine Dienerin arbeiten, nachdem er mich geheilt hätte. Meine Eltern waren einverstanden. Joju nahm die Geisteraustreibung vor, und die Geister wichen aus mir. Ich blieb dann bei Joju im Tempel. Tagsüber wusch ich die Wäsche, wischte die Böden auf und reinigte die Aborte. In den Nächten ...«
Ein Schluchzen unterbrach sie, ehe sie fortfuhr: »In den Nächten hat Joju Dinge mit mir getan, die nur zwischen Eheleuten geschehen sollten. Dinge, die ein Priester niemals tun sollte. Aber ich konnte ihn nicht davon abhalten, ich konnte mich ihm nicht verweigern. Schließlich stand ich in seiner Schuld.« Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen. »Ich habe mich schrecklich geschämt. Irgendwann sagte er mir, meine Schuld sei beglichen, und schickte mich zu meinen Eltern zurück. Aber es war zu spät. Ich war schon schwanger.«
Sano empfand Mitleid mit der Frau und Zorn auf Joju, der ein hilfloses Mädchen ausgenutzt hatte.
»Meine Eltern haben mich hinausgeworfen«, fuhr Okitsu fort. »In einer Gasse brachte ich das Kind zur Welt. Es starb, und auch ich wäre beinahe gestorben. Danach kehrten die bösen Geister in meinen Körper zurück.« Okitsu lächelte. In ihren Augen loderte ein wildes Feuer. »Die Geister sagten mir, ich müsste leben und stark sein. Ich habe gehorcht. Eine Zeit lang habe ich mich an Männer verkauft. Als ich unansehnlich wurde, bin ich zur Bettlerin geworden. Die Geister sagten mir, eines Tages bekäme ich die Gelegenheit, Joju heimzuzahlen, was er mir angetan hat.« Sie grinste Sano an. »Die Geister sagen, dass dieser Tag nicht mehr fern ist.«
Es durchlief Sano eiskalt. Beinahe glaubte er, die Dämonen in Okitsus Augen sehen zu können. Dann drehte sie sich um und schlurfte die Straße hinunter, wobei sie vor sich hin murmelte.
Nachdem Sano auf sein Pferd gestiegen war und sich seinen Männern angeschlossen hatte, berichtete er den Ermittlern, was Okitsu ihm erzählt hatte.
»Na so was«, sagte Marume. »Unser Freund Joju hat die gleichen Sünden begangen wie die Leute, denen er die bösen Geister austreibt.«
»Er selbst macht aber nicht den Eindruck, als würde der Geist seines toten Kindes ihn heimsuchen«, meinte Fukida.
»Trotzdem würde ich einer verrückten Bettlerin eher glauben als diesem betrügerischen Geisteraustreiber«, entgegnete Marume.
»Ich auch«, pflichtete Sano ihm bei. »Aber selbst wenn er die Bettlerin als junge Frau vergewaltigt hat, bedeutet das noch lange nicht, dass er auch die anderen Opfer missbraucht hat. Das ist kein Beweis.«
Dennoch hatten die beiden ersten Verdächtigen, Joju und Ogita, eines gemeinsam: das Interesse an zweifelhaften Vergnügungen. Ogita war ein Genießer pornografischer Kunst, aber diese Leidenschaft teilte er mit vielen anderen. Joju hatte die Hilflosigkeit eines jungen Mädchens ausgenutzt; aber auch das galt für zahlreiche andere Männer.
»Es ist zwar kein Beweis«, sagte Fukida, »aber es spricht nicht gerade für ihn.«
»Schauen wir uns erst einmal an, wie es bei Nanbu aussieht«, erwiderte Sano.
»Aber wie sollen wir an ihn herankommen, solange er von seinen Hunden beschützt wird?«, wollte Fukida wissen.
»Gut, dass du mich an die Hunde erinnerst«, sagte Sano. »Bevor wir Nanbu einen Besuch abstatten, sollten wir Vorsichtsmaßnahmen ergreifen.«
*
Begleitet von seinen beiden besten Ermittlern ritt Hirata an den Kanälen, Anlegestellen und Lagerhäusern am Fluss Sumida vorbei, der durch das Stadtviertel Hatchobori
Weitere Kostenlose Bücher