Der Wolkenpavillon
sich die Gebetshalle seit seinem letzten Besuch radikal verändert hatte. Tageslicht fiel durch geöffnete Dachluken. Die schwarzen Vorhänge an den Wänden und Dachbalken waren zur Seite gezogen worden und gaben den Blick auf Fensterreihen frei. Vor einem dieser Fenster befand sich eine Halterung, an der ein Gemälde befestigt war, das blutige Föten zeigte. Durch eine offen stehende Tür konnte Sano in einen Raum blicken, in dem eine Trommel, eine Laute und eine Samisen standen. Offensichtlich wurden diese Instrumente während der Rituale gespielt. Vor anderen Fenstern waren Plattformen errichtet worden, auf denen Mönche hockten, damit beschäftigt, Leuchtfeuer, Raketen und Rauchbomben an versteckten Stellen anzubringen. Andere Mönche ließen aus einem Loch in der Decke eine Strohpuppe herab, die an dünnen Schnüren hing und mit weißen Schleiern verhüllt war. Sie bewegten die menschengroße Puppe wie Marionettenspieler, indem sie an den Schnüren zogen. Die ganze Szenerie erinnerte Sano an ein Theater, in dem die Aufführung eines neuen Stückes vorbereitet wird.
Kaum hatten die Mönche Sano und dessen Männer erblickt, zogen sie die Puppe hastig in die Höhe und verschwanden durch das Loch in der Decke; die anderen zogen eilends die Vorhänge zu, ehe sie durch die Fenster die Flucht ergriffen. »Zu spät!«, rief Marume. Er und Fukida lachten. »Wir haben alles gesehen!«
Joju kam so schnell in die Gebetshalle gestürmt, dass seine orangerote Robe wie eine Flamme hinter ihm herwogte. »Bei allen Göttern, was hat das zu bedeuten?«, wollte er wissen. Sein schön geschnittenes Gesicht war vor Zorn gerötet. »Eure Soldaten dringen in meinen Tempel ein! Sie behaupten, ich würde die Gemahlin des Shōgun verstecken. Das ist lächerlich!«
»Jedenfalls versteckt Ihr eine Menge andere Dinge.« Sano wies auf die Theaterrequisiten.
Joju geriet einen Moment lang aus der Fassung, fing sich aber sofort wieder. »Das ist bloß das Werkzeug für meine Rituale.«
»Ihr nennt das ›Werkzeug‹?« Sano schüttelte den Kopf. »Ich nenne es Betrug.«
Der Priester lächelte herablassend. »Die Geister sind echt. Ebenso meine Geisteraustreibungen. Aber das geht nun einmal am besten, wenn die Leute daran glauben. Die Requisiten helfen ihnen, gläubig zu werden.«
»Fragt sich nur, wie es in Zukunft mit dem Glauben des Shōgun aussieht, wenn er von dem Schwindel hier erfährt«, entgegnete Sano.
»Ihr werdet ihm doch nichts davon erzählen.« Jojus Worte klangen wie eine Frage, eine Drohung und eine Bitte zugleich.
»Ich finde, er sollte davon erfahren, wenn jemand sein Geld dazu benutzt, um ihn zum Narren zu halten.«
»Und ich finde, Ihr solltet wissen, dass die Leute an das glauben wollen, was ich tue«, entgegnete Joju. »Auch der Shōgun glaubt an die Existenz von Geistern und Dämonen. Er glaubt, dass ich mit ihnen reden kann und Probleme dadurch löse, dass ich diese Geister austreibe. Es würde ihm gar nicht gefallen, wenn Ihr ihm erzählt, dass meine Geisteraustreibungen nur Schwindel seien und sorgengeplagten Menschen keine Hilfe bieten könnten.«
»Das mag stimmen«, erwiderte Sano, »nur unterschätzt Ihr meinen Einfluss auf den Shōgun.«
»Dann tragen wir ihm unsere unterschiedliche Sichtweise vor. Dann werden wir ja sehen, für wen er sich entscheidet.«
»Dieses Risiko gehe ich ein«, sagte Sano, obwohl es gut möglich war, dass der abergläubische Herrscher sich auf Jojus Seite schlug. »Aber gesetzt den Fall, der Shōgun findet heraus, dass Ihr seine Gemahlin entführt habt - glaubt Ihr, er würde Euer Gönner bleiben?«
»Ich habe die ehrenwerte Nobuko nicht entführt!«, stieß Joju trotzig hervor.
»Dann dürfte es Euch ja nicht schwerfallen, Eure Unschuld zu beweisen«, sagte Sano. Draußen erklangen die Geräusche seiner Männer, die über das Tempelgelände liefen: Rufe, schnelle Schritte, das Klirren von Waffen und Rüstungsteilen. »Wo wart Ihr gestern früh?«
»Hier am Tempel.«
»Habt Ihr etwas von Jinshichi und Gombei gesehen oder gehört?«
»Den Ochsenkarrenfahrern? Nein.«
Sano blickte rasch zu Marume und Fukida hinüber. Auf ihren Gesichtern spiegelte sich die gleiche Besorgnis, die auch ihn selbst überkam. Falls die Gemahlin des Shōgun sich wirklich in Jojus Händen befand, musste sie irgendwo anders versteckt sein. Joju brauchte bloß den Mund zu halten, und Sano würde die Frau nicht eher finden, als bis der Geisterbeschwörer sie gehen ließ. Und Sano lief unerbittlich
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