Der Wolkenpavillon
durch das Tor spähte, erblickte sie ein Feld, das dicht mit Sträuchern und Unkraut bewachsen war: den Armenfriedhof. Nanbu und seine Männer stapften im Licht ihrer Laternen über das Feld. Hier, auf dem Armenfriedhof, erhoben sich statt der Steinsäulen schmucklose Holzpfosten mit Schildern daran, auf denen in verblassender Tusche die Namen der Toten standen. Aus dem Schlot eines Krematoriums, das den Trauernden keine Möglichkeit bot, sich unterzustellen, stieg Rauch in den dunklen Himmel. Durch Risse in den Wänden war das Flackern der Flammen im Innern zu sehen; es sah aus wie ein Netzwerk aus glühend roten Adern.
»Fumiko muss schon hier sein«, sagte Chiyo.
Ohne auf ihre eigene Sicherheit zu achten, eilte sie auf das von Unkraut überwucherte Gelände, ehe Reiko sie daran hindern konnte. Reiko hatte keine andere Wahl, als Chiyo zu folgen, wobei sie geduckt durch das Unkraut lief, das am Rand des Grabfeldes wucherte. Leutnant Tanuma und die Soldaten folgten ihr. Reiko betete stumm, dass Nanbu und dessen Männer sie nicht hörten. Schließlich holte sie Chiyo ein und zerrte sie rasch hinter das Krematorium. Tanuma und die Soldaten versteckten sich dort mit den beiden Frauen. Dann beobachteten sie, wie Nanbu und dessen Männer sich in der Mitte des Armenfriedhofs sammelten.
»Wo ist dieser elende Verbrecher?«, sagte Nanbu.
»Das war keine gute Idee«, meinte ein glatzköpfiger Mann mit Doppelkinn. Er war kein Samurai, denn er trug keine Schwerter. Seine zornige Stimme war tief und volltönend. »Ich hätte mich niemals überreden lassen dürfen hierherzukommen.«
Erstaunt bemerkte Reiko: »Da ist Ogita! Genauso hat mein Gemahl ihn mir beschrieben. Was haben Nanbu und Ogita hier zu suchen?«
Chiyo flüsterte mit bebender Stimme: »Da ist er! Ich erkenne seine Stimme wieder! Das ist der Mann aus dem Wolkenpavillon!«
Reiko atmete tief durch. Endlich war einer der Vergewaltiger von seinem Opfer identifiziert worden! Fragte sich nur, ob Ogita und Nanbu auch Fumiko vergewaltigt hatten. Waren die Männer aus diesem Grund hierhergekommen?
»Warum schimpft Ihr?«, sagte Nanbu zu Ogita. »Schließlich seid Ihr zu mir gerannt, als Ihr Jirochos Nachricht erhalten hattet, und habt mich gefragt, was Ihr tun sollt. Ich habe diese Lösung hier vorgeschlagen. Wenn Ihr eine bessere wisst, dann sagt es.«
Wie immer die beiden Männer sich kennengelernt hatten und ungeachtet der Antwort auf die Frage, ob sie Fumiko vergewaltigt hatten: Sie hatten sich offensichtlich zusammengetan, um sich gegen Jirochos Erpressung zu wehren.
»Vielleicht sollten wir uns bei Jirocho freikaufen«, meinte Ogita.
Nanbu schnaubte abfällig. »Ihr seid doch ein gewiefter Geschäftsmann. Ihr solltet eigentlich wissen, dass wir ihn auf diese Weise niemals loswerden können. Er würde immer wieder Geld von uns verlangen, bis wir ausgeblutet sind. Das da ist der einzige Ausweg.« Er wies auf seine Leute.
Schon als Reiko die Männer mit den Hunden gesehen hatte, hatte sie geahnt, dass Nanbu nicht die Absicht hatte, sich der Erpressung durch Jirocho zu beugen. Seine Worte bestätigten nun Reikos Verdacht. Einige der Männer, die sich auf dem Friedhof versammelt hatten, mussten zu Ogita gehören; auch er hatte seine Privatarmee mitgebracht.
Chiyo hatte recht. Es würde Probleme geben. Und Reiko mit ihren sechs Leibwächtern war hoffnungslos in der Unterzahl.
»Das gefällt mir nicht«, sagte Ogita. »Wir geraten in Schwierigkeiten.«
Nanbu lachte. »Wir sind bereits in Schwierigkeiten. Oder habt Ihr schon vergessen, was wir getan haben, um Kammerherr Sanos Spitzel loszuwerden?«
»Ihr meint wohl, was Ihr getan habt«, erwiderte Ogita.
»Ihr habt mich nicht daran gehindert!«, stieß Nanbu zornig hervor. »Ihr habt dabeigestanden und zugeschaut. Ihr steckt in der Sache mit drin.«
Voller Schrecken erkannte Reiko, dass Nanbu und dessen Leute und die Hunde Sanos Soldaten getötet haben mussten. Mit Verstärkung konnte sie also nicht rechnen.
»Außerdem wart Ihr derjenige, der diesen unfähigen Narren in Major Kumazawas Haus geschickt hat«, sagte Nanbu. »Hätte er den Auftrag ausgeführt, säßen wir jetzt nicht in der Patsche.«
Nanbu sprach offensichtlich von dem Meuchelmörder. Nun wusste Reiko auch, wer für den Mordanschlag auf Chiyo, Fumiko und sie selbst verantwortlich war.
»Ich hätte mich niemals mit Euch einlassen sollen!«, stieß Ogita hervor.
»Für solche Einsichten ist es jetzt zu spät«, erwiderte Nanbu. »Wenn das hier
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