Der Wolkenpavillon
es sich in der Nähe der Tempel, in denen die Trauerfeierlichkeiten abgehalten wurden, zum anderen war es weit genug von Edo entfernt, wo Krematorien nicht betrieben werden durften, weil die Gefahr bestand, dass es zu einer Brandkatastrophe kam.
»Jirocho hat den Armenfriedhof wahrscheinlich deshalb als Treffpunkt ausgewählt, weil sich hier niemand aufhält«, sagte Reiko.
»Ja«, pflichtete Chiyo ihr bei. »Hier kann er ungestört seinen Geschäften nachgehen.«
Als Reiko in der Sänfte und ihre Begleiter in eine Rauchwolke gerieten, die tief über der Straße hing, stieg ihnen der scheußliche Geruch von verbranntem Fleisch in die Nase. Die beiden Frauen hielten sich die Ärmel ihrer Kimonos vor Nase und Mund, doch der Gestank war so stark, dass sie ihn auf der Zunge schmecken konnten. Die Begleitsoldaten husteten, während das Licht der Laternen an ihrem Sattel den Rauch blutrot färbte, sodass es aussah, als würden Reiko und ihre Eskorte sich durch Flammen bewegen: eine Prozession, die unterwegs war in eine höllische, glühende Unterwelt.
Schließlich setzten die Sänftenträger ihre Last auf der Hauptstraße ab, an der sich Läden mit Altargegenständen aneinanderreihten: Buddhastatuen, Kerzenhalter, Lotosblüten aus Gold und Weihrauchbrenner. Die Läden waren um diese Zeit geschlossen und den Toten überlassen, bis der neue Tag anbrach und die Lebenden hierher zurückkehrten.
Die Sänftenträger amteten schwer, erschöpft von der Reise, und keuchten wegen des Rauchs. Leutnant Tanuma stieg vom Pferd. »Ihr bleibt hier und bewacht die Pferde«, wies er die Träger an. »Von hier aus gehen wir zu Fuß.«
Reiko und Chiyo stiegen aus der Sänfte. Als die Frauen und die Leibwächter durch die Nebenstraßen Inarichos eilten, klopfte Reikos Herz vor Erregung und Anspannung. Der Friedhof lag hinter kleineren Tempeln und Heiligtümern, umschlossen von Steinmauern und Bambuszäunen. Der übelkeitserregende Gestank von verbranntem Fleisch wurde stärker. Reiko konnte die Hitze spüren, die von den Krematorien ausging.
»In welche Richtung müssen wir?« Leutnant Tanumas besorgtes Gesicht glänzte vor Schweiß im flackernden Licht der Laternen, die er und die anderen Männer mit sich führten.
»Das weiß ich nicht«, antwortete Reiko. Sie war noch nie auf dem Armenfriedhof gewesen, und es war niemand hier, den man hätte fragen können. »Wir müssen uns umschauen.«
Die Gruppe bewegte sich über das Friedhofsgelände. Überall standen Krematorien, die kaum mehr waren als gewaltige steinerne Öfen mit einer Überdachung. Darunter versammelten sich morgens die Trauernden, nachdem die Öfen geöffnet wurden, und nahmen die Knochen der Toten aus der Asche und legten sie in eine Urne, die anschließend beigesetzt wurde.
Reiko hörte zischende Geräusche aus dem Innern der Krematorien. Der Rauch, der aus den Kaminen stieg, war so dicht, dass er einem die Sicht nahm, sodass Reiko und die anderen sich vorwärtstasten mussten zwischen den Reihen steinerner Grabsäulen, in die die Namen der Verstorbenen eingemeißelt waren. Immer wieder stolperten sie über Vasen mit frischen Blumen oder über Tabletts mit Speise- und Trankopfern, die für die Geister der Toten abgestellt worden waren. Doch von Jirocho oder Fumiko war nichts zu sehen. Erschöpft und halb erstickt vom Rauch verharrten Reiko und die anderen schließlich in einer Allee, um sich auszuruhen.
Schließlich läuteten die Tempelglocken die Stunde des Ebers ein, der von Jirocho festgelegte Zeitpunkt des Treffens. Als das Läuten verklang, hörte Reiko ein anderes Geräusch, das ihr eine Gänsehaut verursachte.
»Hört ihr das?«, wisperte sie.
Von irgendwoher drang Hundegebell zu ihnen. Es wurde lauter und kam näher. Dann marschierte ein ungefähr dreißig Mann starker Trupp an der Allee vorbei. Einige Männer trugen Laternen bei sich. Wie es aussah, handelte es sich um Samurai, denn ihr Scheitel war rasiert, und sie waren mit Schwertern bewaffnet. Zehn oder zwölf Mann führten riesige Hunde an der Leine, die am Boden schnüffelten oder bellten. Der Mann mit dem größten und schwärzesten Hund schritt angeberisch daher, breitbeinig, die pendelnden Arme vom Körper abgewinkelt.
»Das muss Nanbu sein«, flüsterte Reiko. »Offenbar weiß er genau, wo er hinwill.«
Reiko und die anderen folgten Nanbu und dessen Leuten bis an ein Tor, das schief in den Angeln hing und auf einen Teil des Friedhofs führte, der von einer Steinmauer umschlossen war. Als Reiko
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