Der Wolkenpavillon
wie einfach eine Scheidung war: Ein paar Pinselstriche auf einem Blatt Papier genügten. Wenn es dem Mann gefiel, konnte er seine Frau sogar zwingen, in einem Bordell zu arbeiten.
»Und was noch schlimmer ist, ihr Ehemann behält die Kinder«, jammerte Yasuko. »Chiyo darf sie nicht einmal sehen. Sie ist völlig verzweifelt.«
Yasuko schob eine Tür auf, rief ins Zimmer: »Die ehrenwerte Reiko ist da«, und trat zur Seite, um Reiko vorbeizulassen.
Chiyo saß auf einem Bett, mehrere Kissen im Rücken. Sie war von der Brust bis zu den Füßen zugedeckt, obwohl es warm und stickig war im Raum. Ihr strähniges Haar schaute unter dem Verband hervor, mit dem ihr Kopf umwickelt war. Ihr Gesicht war so verquollen vom Weinen, dass Reiko ihre Züge kaum erkennen konnte. Chiyo schien Reiko gar nicht wahrzunehmen, sie schluchzte, und ihre Lippen bebten.
Reiko kniete sich neben das Bett und verneigte sich. »Es tut mir schrecklich leid, was man Euch angetan hat«, sagte sie, obwohl sie wusste, wie hohl ihre Worte in Chiyos Ohren klingen mussten. »Lasst es mich wissen, wenn ich etwas für Euch tun kann.«
»Danke«, erwiderte Chiyo mit zittriger Stimme. »Ihr seid sehr freundlich.«
Yasuko bot der Besucherin Erfrischungen an. Wie der Brauch es vorschrieb, lehnte Reiko zuerst der Form halber ab, um das Angebot auf höfliches Drängen Yasukos dann doch anzunehmen. Währenddessen hatte Chiyo sich ein wenig gefasst. Yasuko machte sich auf den Weg in die Küche, doch Reiko spürte, dass es der Frau vor allem darum ging, nicht dabei zu sein, wenn Chiyo über ihre schrecklichen Erlebnisse vernommen wurde, um die Antworten nicht hören zu müssen.
»Ich danke Euch, dass Ihr gekommen seid, um mit mir zu reden, ehrenwerte Reiko«, sagte Chiyo demütig.
»Bitte, lasst die Förmlichkeiten.« Reiko lächelte aufmunternd. »Schließlich sind wir verwandt.«
»Sehr gern, Reiko -san. Es tut mir nur leid, dass ich Euch solche Ungelegenheiten bereite und dass wir uns unter solchen Umständen kennenlernen.«
»Das ist nicht Eure Schuld«, erwiderte Reiko. »Mein Gemahl möchte, dass ich Euch über die Geschehnisse in Asakusa befrage. Könnt Ihr schon darüber reden?«
Chiyo nickte zögernd. Leise fragte sie: »Aber was bringt uns das?«
»Es wird meinem Gemahl helfen, den Mann zu fassen, der Euch das angetan hat.«
Tränen rannen über Chiyos Gesicht. Ihre Augen waren so rot, dass es aussah, als würde sie Blut weinen. »Aber selbst wenn ihm das gelingt«, flüsterte sie, »wird mein Gemahl mich nicht wieder bei sich aufnehmen. Gestern Abend sagte er mir, ich sei für ihn gestorben ... und auch für unsere Kinder. Seine Liebe ist erloschen. In seinen Augen war nur noch Hass.« Sie schluchzte verzweifelt. »Ich werde meine Kleinen nie wiedersehen!«
Reiko mochte sich nicht vorstellen, wie ihr selbst zumute wäre, wenn man ihr die Kinder wegnehmen würde. Sie versuchte, Chiyo ein wenig Hoffnung zu machen, und erklärte: »Vielleicht ändert Euer Gemahl ja seine Meinung.«
»Niemals.« Chiyo schüttelte den Kopf. »Er ist ein guter Mann, aber wenn er einmal etwas beschlossen hat, bleibt er dabei.« Wieder brach Chiyo in Tränen aus. »Er sagte, ich hätte Schande über unsere Familie gebracht. Vielleicht hat er ja sogar recht ...«
»Wieso?«, fragte Reiko verwirrt.
»Weil ich selbst schuld bin«, flüsterte Chiyo.
»Das stimmt nicht«, widersprach Reiko fest. »Mein Gemahl hat mir erzählt, was Ihr am Tempel ausgesagt habt. Ihr habt Eure Gruppe verlassen, weil Euer kleiner Sohn den Lärm nicht ertragen konnte, und dann hat jemand Euch überwältigt und entführt. Ihr könnt nichts dafür.«
»Aber es ist noch mehr passiert«, sagte Chiyo zögernd. »Nach und nach fällt es mir wieder ein. Inzwischen kann ich mich an mehr Dinge erinnern, als ich Eurem Gemahl erzählt habe.«
Reiko horchte auf. »An was für Dinge?«
»Ich bin mit meinem Jungen in einen Garten gegangen und habe ihn dort gestillt.« Chiyo zog die Arme unter der Decke hervor und legte sie um den winzigen Körper eines Säuglings, der gar nicht da war. »Plötzlich hörte ich ein Stöhnen hinter einem Hain aus Bambus. Ein Mann rief um Hilfe. Ich bin hingegangen, um zu sehen, ob ich helfen kann.«
Frauen wurden bereits im Kindesalter zur Hilfsbereitschaft erzogen, und Chiyo war da keine Ausnahme. Reiko konnte sich die Szene in Asakusa nur zu gut ausmalen, und Hass auf den Vergewaltiger überkam sie. »Er hat Euch angelockt, indem er Eure Freundlichkeit ausgenutzt
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