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Der Wolkenpavillon

Der Wolkenpavillon

Titel: Der Wolkenpavillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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er sich wieder an die alte Frau: »Habt Ihr den Fahrer des Karrens gesehen? Wisst Ihr, was er geladen hatte?«
    »Nein«, sagte die Alte. »Da war eine Decke darüber.«
    »Er hatte Chiyo unter der Decke versteckt«, sagte Fukida.
    »Fragt sich nur, wer ›er‹ ist«, meinte Marume.
    Sano nickte. »Das ist die Frage. Wir müssen diesen Ochsenkarren suchen.« Er erinnerte sich an die Baustelle, die er am Tag zuvor gesehen hatte. »Und ich weiß auch schon, wo wir anfangen können.«
    *

    Auf den Straßen des Verwaltungsbezirks Hibiya unweit des Palasts wimmelte es von Samurai. Hier wohnten die Beamten des bakufu auf ihren prächtigen Anwesen, die durch hohe Steinmauern geschützt wurden. Viele Beamte trugen ein Gewand aus Seide, das ihren hohen Rang erkennen ließ, andere einen Waffenrock wie die Soldaten, doch alle waren mit zwei Schwertern bewaffnet, was sie als Samurai auswies. Manche waren beritten oder ließen sich in einer Sänfte tragen; andere, die keine so hohe Stellung innehatten, gingen zu Fuß.
    Sie alle traten zur Seite, um Hirata Platz zu machen. Als er durch die Gasse ritt, die die Menge vor ihm bildete, wurde er mit bewundernden Blicken gemustert. Sein Ruf als gefährlichster Kämpfer Edos eilte ihm voraus und umhüllte ihn wie ein Waffenrock aus schimmerndem Gold. Gerüchten zufolge konnte Hirata sogar Gedanken lesen, konnte sehen, was hinter seinem Rücken vor sich ging, und konnte jede Bewegung eines Gegners vorausahnen. Angeblich hatte er sogar die Fähigkeit, mit der Welt der Geister in Verbindung zu treten.
    An diesen Gerüchten war mehr als nur ein Körnchen Wahrheit. Die lange und harte Ausbildung in der Abgeschiedenheit der Berge hatte bei Hirata geistige Kräfte freigesetzt, die eigentlich jeder Mensch besaß, die aber nur die Allerwenigsten zu nutzen verstanden.
    Ein Teil der gesteigerten Wahrnehmungsfähigkeit Hiratas war nun auf seine Umgebung gerichtet. Ohne sich darauf konzentrieren zu müssen, prägte er sich die Gesichter der Menschen ein, in die er blickte; zugleich nahm er das Trappeln von Pferdehufen, das Klatschen von Sandalen auf der nassen Straße und das Rascheln von Strohumhängen wahr. Mit einem anderen Teil seiner Sinneswahrnehmung, geschärft durch seine Ausbildung in uralten geheimen Techniken, erspürte Hirata das Kraftfeld eines jeden Menschen um sich herum: eine Aura aus reiner Energie, in der Hirata zu lesen verstand wie in einem offenen Buch, sodass sich ihm die Persönlichkeit und die Gefühle eines jeden Individuums offenbarten. Manche Kraftfelder pulsierten nur schwach, andere dagegen strahlten hell wie Leuchtfeuer. In einer Schlacht konnte diese Aura von einem Krieger, der sich darauf verstand, zur Verteidigung genutzt werden: Eine starke Aura vermochte Schwerthiebe und Lanzenstöße wirkungsvoller abzuwehren als ein Schild. Zugleich konnte diese Aura als Angriffswaffe dienen und jeden Gegner mit einem einzigen verheerenden Schlag aus reiner Energie vernichten.
    Doch kein Kraftfeld war so machtvoll wie das von Hirata, als er nun durch Hibiya ritt.
    Plötzlich erspürte er drei Personen in der Menge, deren Energiefelder Kampfeslust ausstrahlten, gepaart mit Wagemut und Leichtsinn. Sekunden später ritten drei junge Soldaten genau auf Hirata zu. Sie zügelten ihre Pferde, sprangen aus dem Sattel und stellten sich ihm den Weg. Der Größte der drei war ein Bursche mit dünnen schwarzen Brauen und kantigem Kinn, dessen schlanke, muskulöse Gestalt erkennen ließ, dass er viel Zeit darauf verwendete, seinen Körper zu stählen. Auf seinem Waffenrock prangte das Wappen der Tokugawa. Mit lässigen Schritten ging er auf Hirata zu. »Ich fordere Euch zum Zweikampf«, sagte er ohne Umschweife.
    Hirata seufzte. »Nein, das willst du nicht wirklich.«
    »Was ist?«, rief der Bursche wild. »Habt Ihr Angst, besiegt zu werden? Steigt von Eurem Gaul und kämpft!«
    Es war nicht das erste Mal, dass Hirata auf diese Weise herausgefordert wurde. Ein Ruf wie der seine hatte auch Nachteile. Hirata wusste nicht mehr, wie viele Samurai ihn auf diese Weise angepöbelt hatten, begierig, sich und der Welt zu beweisen, dass sie dem sōsakan-sama des Shōgun überlegen waren. Allerdings hatte bisher noch keiner von Hiratas Gegnern diesen Beweis erbringen können.
    »Feigling!«, riefen die Kumpane des Soldaten Hirata zu. »Versager!«
    Rasch bildete sich eine Menschenmenge um Hirata und seinen Herausforderer. Alle waren begierig, den Kampf zu sehen. »Was ist?«, rief der Soldat. »Wollt

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