Der Wolkenpavillon
hatten die Drogen bei Chiyo den Anblick der Wolken heraufbeschworen und sie in ihrem umnebelten Hirn mit dem Regen, dem Donner und der Vergewaltigung verschmolzen.
»Denkt noch einmal ganz genau nach«, sagte Reiko dennoch. »Fällt Euch sonst noch etwas ein?«
»Es tut mir leid, aber ich kann nicht mehr.« Chiyo seufzte, geschwächt von der seelischen Anstrengung, ihre Qualen noch einmal zu durchleben. »Ich würde jetzt gern schlafen. Wenn Ihr bitte ...« Plötzlich erstarrte sie. Ihre Muskeln verhärteten sich und zuckten in heftigen Krämpfen. Auf ihrem Gesicht spiegelten sich abwechselnd Schrecken, Angst und Entsetzen. »Nein!«, stieß sie hervor. »Oh nein!«
»Was ist?«, fragte Reiko besorgt.
»Mir ist da gerade noch etwas eingefallen«, antwortete Chiyo. »Ich bin noch einmal aufgewacht ... nur ganz kurz, nachdem der Mann mir ins Gesicht geschlagen hatte.« Chiyo berührte ihre Wange. »Er sagte, wenn ich jemandem erzähle, was er mit mir gemacht hat, bringt er mich um ... mich und meinen kleinen Jungen.« Ihre Stimme wurde schrill. »Und jetzt habe ich es erzählt! Das hätte ich nicht tun dürfen! Jetzt wird er mich bestrafen, mich und mein Kind. Er wird meinen kleinen Jungen töten!«
»So weit wird es nicht kommen«, versicherte Reiko. »Hier seid Ihr in Sicherheit. Euer Vater wird Euch beschützen. Und mein Gemahl und seine Leute werden den Täter fassen, bevor er seine Drohung wahr machen kann.« Reiko wollte alles tun, um diese Bestie den Gerichten auszuliefern. Und obwohl sie wusste, dass der Erfolg keineswegs sicher war, fügte sie hinzu: »Ich verspreche es.«
10.
Sano und seine Männer kamen zu der Straße, an der sie am Tag zuvor Chiyo gefunden hatten. Der Regen hatte aufgehört. Sano blickte zu dem Haus, unter dessen Balkon er und seine Leute sich gestern während des Wolkenbruchs untergestellt hatten. Das Gebäude stand inmitten einer Reihe von Läden, in denen Backwaren verkauft wurden. Vor den Eingängen standen die Kunden Schlange. Sano ging von einem Laden zum nächsten und fragte die Besitzer, ob sie am Tag zuvor beobachtet hatten, wie Chiyo durch den Regen getaumelt war.
»Ja, ich habe die Frau gesehen«, sagte einer der Ladenbesitzer, während er für einen Kunden Reisküchlein einwickelte. »Ich dachte, es sei bloß eine betrunkene Hure.«
Sano und seine Leute schlugen den Weg ein, den Chiyo tags zuvor genommen hatte, bogen um eine Straßenecke und gingen einen weiteren Häuserblock entlang, wo sich Geschäfte aneinanderreihten, in denen religiöse Gegenstände angeboten wurden. Zwei Ladeninhaber sagten aus, sie hätten Chiyo beobachtet; die anderen gaben an, sie hätten nichts gesehen. Auf halber Strecke die Ladenzeile entlang zweigte eine Nebenstraße nach rechts ab. Sie war breiter als die Gassen, die üblicherweise zwischen dicht stehenden Gebäuden hindurchführten: Es war eine Feuerschneise, die im Falle eines Unglücks Menschenansammlungen und ein Übergreifen der Flammen verhindern sollte.
Sano, Marume und Fukida schritten die Gasse entlang, wobei sie schlammigen Pfützen auswichen. Balkone warfen tiefe Schatten über die Eingangstüren der Häuser und über die Jauchefässer, die einen durchdringenden Gestank verströmten. Als Sano den Blick über das Kopfsteinpflaster schweifen ließ, fiel ihm plötzlich etwas auf: An einer Stelle sah er, dass sich in den Ritzen zwischen mehreren Pflastersteinen Blut gesammelt hatte.
»Hier muss Chiyo abgeladen worden sein«, sagte er. »Da sind Blutspuren.«
Eine alte Frau, die sich eine Tabakspfeife zwischen die gelben Zähne geklemmt hatte, kam auf einen Balkon gehumpelt und nahm eine Decke vom Geländer, die sie offenbar im Regen hatte hängen lassen. Fluchend wrang sie die Decke aus. Sano rief zu ihr hinauf: »Habt Ihr gestern während des Unwetters jemanden durch die Gasse kommen sehen?«
»Bloß einen Ochsenkarren. Der Fahrer hat eine Abkürzung genommen, statt um den Block zu fahren.« Die Alte paffte an der Pfeife. Der Tabak roch wie alter Filz. Zornig fügte die Frau hinzu: »Dabei ist hier gar nicht genug Platz für einen Karren! Immer wieder zerschrammen sie die Hauswände! Und die Ochsen machen ihre Haufen auf das Pflaster, diese stinkenden Ungeheuer. Ich schaufle den Mist jedes Mal in einen Eimer und kippe ihn dem Fahrer über den Kopf, wenn er das nächste Mal vorbeikommt.« Die Alte lachte krächzend.
»Der Täter muss Chiyo von dem Ochsenkarren geworfen haben«, sagte Sano zu den beiden Ermittlern. Dann wandte
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