Der Wolkenpavillon
hat!«
»Trotzdem war es dumm von mir«, sagte Chiyo unter Tränen. »Ich hätte mich nicht so leicht täuschen lassen dürfen. Ich habe es verdient, dass mein Mann sich nun von mir scheiden lässt und unsere Kinder zu sich nimmt.«
»Unsinn!«, sagte Reiko zornig. »Ihr konntet doch nicht wissen, dass es eine List war. Ihr dürft Euch nicht die Schuld geben.«
Chiyos Gesicht verzerrte sich, und ihre Tränen strömten heftiger. »Aber mein Mann gibt mir die Schuld.«
»Euer Mann irrt sich!«
»Ich kann von Glück sagen, dass mein Vater sich nicht ebenfalls von mir losgesagt hat.«
In der Tat würden die meisten Väter einer Tochter, die Opfer einer Vergewaltigung geworden war, aus dem Weg gehen, und Kumazawa hatte sich bisher nicht ausdrücklich auf Chiyos Seite gestellt. Vielleicht hatte Sano recht. Vielleicht war der Major tatsächlich ein verbohrter, den alten, starren Traditionen verhafteter Samurai.
»Macht Euch keine Sorgen«, sagte Reiko dennoch. »Euer Vater gibt allein dem Vergewaltiger die Schuld. Er will, dass der Mann gefasst und bestraft wird - genau wie ich.« Heiße Wut überkam sie. »Und Ihr wollt es doch auch, nicht wahr?«
»Ich weiß nicht ...« Der Gedanke, gegen irgendjemanden vorzugehen, schien Chiyo Unbehagen zu bereiten. Offenbar kannte sie keine Rachsucht. »Aber wenn ihr alle es so wollt ...«
»Wir wollen, dass Euch Gerechtigkeit widerfährt. Aber dazu müsst Ihr uns helfen.«
Chiyo zögerte. Schließlich gab sie sich einen Ruck. »Also gut. Was kann ich für Euch tun?«
»Erzählt mir alles über die Entführung und über die Vergewaltigung. Alles, woran Ihr Euch erinnern könnt. Lasst uns mit dem Mann im Garten beginnen, der Euch mit seinem Hilferuf getäuscht hat. Wie sah er aus?«
Chiyo dachte nach, runzelte die Stirn und schüttelte schließlich den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur noch, dass ich zu dem Bambushain gegangen bin. Von da an fehlt mir jede Erinnerung, bis ich ...« Sie stockte, erschauerte. »Bis ich wieder wach geworden bin.« Chiyo presste ihr Gesicht in das Kissen, als wollte sie sich vor der eigenen Erinnerung verstecken.
Reiko vermutete, dass der Mann Chiyo gepackt und ihr dann irgendeinen Trank eingeflößt hatte, der sie bewusstlos machte und alle Erinnerungen löschte. Dennoch konnte sie es Chiyo nicht ersparen, sie nach den Einzelheiten der Vergewaltigung zu fragen. Bedächtig und mit leiser Stimme, um Chiyo nicht unter Druck zu setzen, fragte sie: »Was geschah dann?«
»Er ... er hat mich da berührt, wo nicht einmal mein Mann mich jemals berührt hat.« Chiyo holte tief Atem und schluckte schwer. »Er saugte an meinen Brüsten. Und er ... er hat mich gebissen.«
Sie öffnete ihr Gewand über dem Busen. Um die Brustwarzen herum waren die Abdrücke von Zähnen zu erkennen, rot und blutig. Reiko zuckte heftig zusammen. »Habt Ihr sein Gesicht gesehen?«, fragte sie.
»Nur ganz kurz. Alles war dunkel, dunstig und verschwommen. Es war so wie ...« Chiyo suchte nach Worten. »Ich habe einmal ein Gedicht über einen Pavillon aus Wolken gelesen. Daran hat es mich erinnert.«
Reiko fragte sich, ob die Wolken ein Trugbild gewesen waren, hervorgerufen durch Rauschmittel.
»Die Wolken haben sein Gesicht verdeckt«, fuhr Chiyo fort. »Nur den Mund und die Augen nicht.«
Er hat eine Maske getragen, folgerte Reiko.
Chiyo zitterte jetzt am ganzen Körper. »Er war so hässlich und so grausam«, flüsterte sie. »Wie ein Dämon.«
»Habt Ihr ihn vorher schon einmal gesehen? Kam er Euch irgendwie bekannt vor?«
»Nein, ich glaube nicht.«
»Würdet Ihr ihn wiedererkennen?«
»Könnte sein.« Chiyo wirkte unsicher. »Ja, schon möglich.«
Reiko unterdrückte ihre Wut bei dem Gedanken, der Vergewaltiger könnte ungestraft davonkommen, weil Chiyo sich kaum mehr an etwas erinnerte. »Könnt Ihr mir denn gar nichts sagen, das mir weiterhelfen könnte?«
Wieder erschauerte Chiyo. »Seine Stimme«, wisperte sie, »Als er in mir war, hat er geflüstert: ›Liebste Mutter, geliebte Mutter ...‹«
Reiko erschauerte angesichts der Perversion des Vergewaltigers. Sie fragte: »Habt Ihr außer seiner Stimme sonst noch etwas gehört?«
»Den Regen und den Donner draußen.«
Chiyos Antwort half Reiko auch nicht, den Tatort einzugrenzen, denn seit Tagen schon tobten Unwetter über Edo. Und was die Wolken betraf - die hatte Chiyo sich vielleicht nur eingebildet. »Wolken und Regen« war die poetische Umschreibung des sexuellen Höhepunkts. Möglicherweise
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