Der Wolkenpavillon
Schmerzen zuzufügen, ohne dass körperliche Schäden zurückblieben. Es gab niemanden, dessen Willen Hirata nicht brechen konnte. Dennoch sagte Sano: »Nein. Du weißt, dass ich ein Gegner der Folter bin. Ich bin sicher, dass diese beiden Halsabschneider schuldig sind, aber solange ich keine eindeutigen Beweise habe, werde ich nichts gegen sie unternehmen - und du auch nicht.«
Ein solches Verhalten entsprach Sanos Ehrenkodex, auch wenn es ihm in diesem Fall besonders schwerfiel.
Hirata nickte. Er teilte Sanos Prinzipien, hielt sich aber nicht so eisern daran.
»Außerdem«, fuhr Sano fort, »könnten wir uns trotz allem irren, was die Schuld von Gombei und Jinshichi angeht. Wir dürfen die beiden nicht bestrafen, solange ihre Schuld nicht eindeutig erwiesen ist, sonst besteht die Gefahr, dass der wahre Täter ungestraft davonkommt.«
»Wir werden die Beweise für ihre Schuld schon noch finden«, sagte Hirata überzeugt. »Soll ich noch einmal zum Shinobazu-See reiten und nach weiteren Zeugen suchen?«
Fukida warf ein: »Marume -san und ich könnten uns noch einmal im Zōjō-Tempelbezirk umsehen.«
Sano war damit einverstanden und erwog, selbst noch einmal nach Asakusa zu reiten. Dann aber verwarf er den Gedanken. Es musste eine Möglichkeit geben, schneller zu Ergebnissen zu kommen. Sano beschloss, einer Strategie zu folgen, die er noch nie angewandt hatte.
»Jetzt noch nicht«, sagte er. »Ich habe einen anderen Plan.«
20.
Am Fluss Sumida im Nordwesten des Palasts zu Edo, ein Stück stromaufwärts von den Lagerhäusern und Anlegestellen, erstreckte sich ein langer Uferstreifen, der mit Kirschbäumen bepflanzt war, zwischen denen kleine Pavillons standen. Im Frühling, wenn die Bäume in Blüte standen, war die Gegend ein beliebtes Ausflugsziel für die Einwohner von Edo. Sie machten Picknick in den Pavillons, besuchten die Teehäuser am Ufer des Sumida, fuhren in einem der Vergnügungsboote über den Fluss und bewunderten die Pracht der rosa Kirschblüten.
Aber heute waren die Blüten längst verschwunden, die Pavillons leer, und die Wolken an Himmel drohten wieder mit Regen. Die Bäume standen in vollem Grün und warfen ihre Schatten über die nassen Wiesen, wenn die Sonne zwischen den Wolken hindurchblinzelte. Lastkähne und Fähren waren auf dem Fluss unterwegs, dessen Wasser braun und trüb vorüberströmte.
Zu den wenigen Spaziergängern, die am Ufer des Sumida entlangschlenderten, gehörten Yanagisawa und Yoritomo. Beide hatten sich ihrer Regenkleidung und der Hüte entledigt und trugen jetzt Seidengewänder in gedeckten Farben und ohne aufgesticktes Wappen. Ihre Wachsoldaten folgten ihnen in respektvollem Abstand.
»Was ist mit dir?«, erkundigte sich Yanagisawa. »Du siehst schlecht aus.«
Yoritomos hübsches Gesicht war bleich und verschwitzt, und sein Adamsapfel hüpfte auf und ab, als er krampfartig schluckte. »Ich bin bloß unruhig.«
»Warum?«
»Ich habe das noch nie gemacht.«
»Ich weiß.« Yanagisawa nickte. Sie waren unterwegs zu einem Initiationsritual, dem Yanagisawa seinen Sohn noch nie unterworfen hatte. Yanagisawa fragte sich, ob es besser gewesen wäre, das, was jetzt kommen würde, mit seinem Sohn vorher durchzuspielen, aber dafür war es jetzt zu spät. Jetzt konnte Yanagisawa nur noch hoffen, dass Yoritomo keinen schlechten Eindruck hinterließ.
»Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll«, sagte Yoritomo unsicher. »Ich habe nicht viel Erfahrung mit Frauen.«
Und das hatte seinen Grund. Als Kind war Yoritomo von der Außenwelt abgeschirmt worden. Er war in einer abgelegenen Villa auf dem Land aufgewachsen, bei seiner Mutter, einer entfernten Cousine des Shōgun, mit der Yanagisawa eine kurze, heftige Liebesaffäre gehabt hatte. Als Heranwachsender hatte Yoritomo nur mit wenigen Frauen zu tun gehabt, abgesehen von Dienerinnen. Und später hatte seine intime Beziehung mit dem Shōgun nähere Bekanntschaften oder gar Liebschaften mit Frauen unmöglich gemacht. Yanagisawa wusste, dass Yoritomo noch nie mit einer Frau geschlafen hatte. Aber das würde sich bald ändern, hoffte er.
»Sei einfach du selbst«, riet er Yoritomo, »dann ergibt sich alles von ganz allein.«
»In Ordnung«, sagte Yoritomo, doch Yanagisawa sah, wie er zitterte. Mitleid überkam ihn und auch Schuldgefühle, denn es lag vor allem an ihm, dass sein Sohn kein normales Leben hatte führen können. »Und was soll ich sagen?«
»Sag gar nichts, es sei denn, jemand spricht dich an. Dann versuchst
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