Der wunderbare Massenselbstmord
aufgeplatzte Lippe und ein Veilchen auf dem linken Auge hatte und vorsichtig und gezielt auftrat, betrachtete sich im Rasierspiegel und erklärte, dass er sich eine Woche lang nicht unter Menschen wagen, sondern lieber im dunklen Zelt liegen und seine Wunden lecken wollte. Der Kapitän zu Lande, der nicht nur an seinen Beulen, sondern auch an einem beson ders schweren Kater litt, forderte, auf geradestem Wege in die Alpen zu fahren und sich ohne große Überlegun gen in eine Schlucht zu stürzen. Die Welt sei kein Ort für anständige Kerle, das Leben sei nicht lebenswert.
Die Sache wurde von allen Seiten beleuchtet. Einige der Beulenköpfe waren derselben Meinung wie Heikki nen. Wozu die elende irdische Wanderung noch weiter verlängern? Man war schließlich unterwegs, um zu sterben, war es nicht höchste Zeit, den Massenselbst mord zu begehen?
Die Frauen, die die Nacht in dem gemütlichen Gast haus verbracht und die keine blauen Flecken davonge tragen hatten, waren munter und dufteten gut. Ihre Einstellung zum Leben war bedeutend positiver. Sie gaben zu, dass die Männer in ihrem Zustand wirklich keinen angenehmen Anblick boten. Trotzdem sollten ein paar vorübergehende Blessuren echten Finnen nicht so viel ausmachen, dass sie gleich vom Tod redeten. Zwar waren ihre Gesichter jetzt verunstaltet, aber das käme bald wieder in Ordnung. Außerdem, wenn man jetzt Massenselbstmord beginge, dann ergäbe das nur eine große Zahl besonders hässlicher Leichen. Tatsächlich abstoßend hässlicher Leichen, wenn man sich die Hel-den so ansah.
Also beschlossen sie, eine Woche in den vom sauren Regen geplagten schwarzen Wäldern auszuharren, fern-ab von den Menschen im Lager zu leben und die Wun den heilen zu lassen.
Die Frauen schlugen vor, anschließend Frankreich zu besuchen, wenigstens das Elsass, das nicht weit weg war. Wenn sich eine finnische Frau der Grenze Frank-reichs näherte, war unvermeidlich, dass sie hinüberwoll te. Vom Elsass aus könnte man dann die Alpen ansteu ern und die Reise in irgendeiner Schlucht beenden, so wie bei der Abfahrt in Norwegen vereinbart.
Die Männer versprachen, im Namen des Familienfrie dens über die Sache nachzudenken.
Die Selbstmordgesellschaft gestaltete also ihr Lagerle ben in den todgeweihten schwarzen Wäldern – Men schen, die in den Tod unterwegs waren, schliefen unter sterbenden Bäumen und aßen tote schwarze Maränen.
Von den einheimischen Bauern kauften sie abgestor bene Bäume, um Holz fürs Lagerfeuer zu haben. Man zahlte gut: Ein Finne fällt im fremden Land keine Bäume zum Spaß. Um den leidenden Männern Abwechslung von den Maränen zu bieten, holten die Frauen aus dem Dorfladen fettige Würste, die sie dann über dem Feuer grillten. Auch Sauerkraut war in der Gegend reichlich zu haben, ebenso fetter Schweinsnacken, Kassler. Die Männer kamen sichtlich wieder zu Kräften und fühlten sich an den Hängen des Schwarzwaldes wohl. Sie ver wilderten schnell, die Jüngeren begannen primitive Ringkämpfe zu veranstalten, die Älteren sangen nachts Marschlieder aus dem Dreißigjährigen Krieg.
Seppo Sorjonen erzählte abends im Schein des Lager feuers seine sanftmütigen Geschichten, die die Herzen der Selbstmörder in Lebenssehnsucht schlagen ließen.
In einer der Geschichten führte er seine Zuhörer ins Heimatland zurück, in den Frostwinter und in eine Nacht auf dem Eis eines Sees. Er erzählte, wie ein Mensch auf Skiern über die weite Eisfläche läuft, zum
eigenen Vergnügen, mitten in der Nacht, ohne eigentli ches Ziel. Der Mond scheint und lässt die Eisfläche hell schimmern wie ein riesengroßes Tischtuch aus weißer Seide. Es herrschen an die zwanzig Grad Frost, der Schnee knirscht unter den Skiern, die Stöcke klacken mit vertrautem Geräusch aufs Eis. Das tausendsternige Himmelszelt wölbt sich über dem Skiläufer, er schaut nach oben in schwindelerregende Höhe. Dort blinkt der Polarstern, direkt über ihm. Das Siebengestirn ist zu sehen, das Sternbild des Orion, der Löwe, der Kleine Bär. Eine Sternschnuppe löst sich blinkend. Der Mensch wünscht instinktiv ganz schnell für seine Näch sten und für die ganze Welt viel Gutes. Gleichzeitig spaltet ein zweiter Stern das Firmament: ein greller Blitz der Hoffnung und der Liebe vor dem schwarzen Himmel. Er ist wie eine Antwort auf das Gebet des Einsamen. Er scheint zu sagen, dass es im Leben Hoffnungen, Träu me, Trost gibt.
Am nördlichen Horizont beginnt blasses
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