Der wunderbare Massenselbstmord
Polarlicht sein unruhiges Spiel. Der Frost zieht an, die Eisfläche dröhnt, als in ihrer Oberfläche eine kilometerlange Spalte entsteht. Aber das Eis ist dick, der Skiläufer braucht die Spalte nicht zu fürchten, der Frost lässt sie bald wieder zufrieren. Vom fernen Ufer ertönt der wilde Schrei eines einsamen Fuchses, das kleine Tier hat den Menschen gewittert und will es mitteilen. Der Skiläufer überquert das gleichmäßige Band der Fuchsspur, das im Mondlicht den Weg in die Richtung des eben gehör ten Rufes weist.
Der Mensch umarmt im Geiste die ganze Welt, das Leben. Er denkt überwältigt, dass in Finnland ein jeder, ob arm oder reich, all dies erleben kann. Sogar ein Krüppel im Rollstuhl kann in kalten Winternächten zu den Sternen aufblicken und die überwältigende Schön heit der Schöpfung, sein Leben, genießen. Der Fuchs bellt jetzt in der Nähe, es klingt verspielt. Das Tier ist nicht zu erkennen, aber es selbst sieht.
Der Mond versteckt sich hinter einer Wolke, Dunkel heit senkt sich über den vereisten See. Die Sterne ver lassen den Skiläufer, er bleibt allein im scharfen Frost zurück, und plötzlich bekommt er Angst, glaubt, sich verirrt zu haben. Die schreckliche Härte der Natur und der Welt isolieren den Menschen, Entsetzen überfällt seinen Körper und seine Gedanken, zwingt ihn, sich vorwärts zu bewegen. Das Leben ist kostbar, er könnte hier sterben, im strengen Frost erfrieren, allein, ohne jede Hilfe. Der Fuchs kommt und zerrt an seinen erkal teten Gliedern. Und dann tauchen die anderen Aasfres ser auf, kommen aus den Wäldern gelaufen, aus der Luft heruntergestürzt, hacken ihm die vereisten Augen aus dem Kopf, der Rabe fliegt davon mit einem seiner Finger im Schnabel – eine entsetzliche Vorstellung.
Die Teller der Skistöcke knirschen auf dem Eis, der Verirrte läuft im Dunkel aufs Geratewohl vorwärts, so schnell er kann. Angstschweiß rinnt ihm über den Rük ken. Der Frost zieht an, Wind kommt auf. Wo bin ich nur?, denkt der Mensch. Das Herz hämmert in seiner Brust, dass es wehtut.
Ein schwarzes Felsufer erhebt sich vor ihm, eine Landzunge oder vielleicht eine Insel. Der Skiläufer schnallt die Bretter ab, nimmt sie unter den Arm und klettert ans Ufer. Zunächst sieht er nichts, dann er kennt er einen rauschenden Wald, Birken, Fichten, Krüppelkiefern. Er lehnt sich an einen Stamm und blickt zurück. Der ferne Ruf des Fuchses ist zu hören. Der Wald rauscht leise, beschützend. Der Skiläufer bricht sich einen Arm voll trockener Zweige und entzün det in einem Felsloch ein kleines Lagerfeuer. Er wärmt sich über den Flammen die Hände, wischt sich den Schweiß von der Stirn, und plötzlich kommt der Mond hinter der Wolke hervor. Silbern glänzt die Eisfläche vor dem Verirrten. Die Sterne funkeln heller als vorher, seine Angst schwindet. Er schürt das Feuer, die Flam men lodern in der Frostnacht, die Funken sprühen wie kleine Sternschnuppen. Er holt ein Butterbrot aus der Tasche, beißt herzhaft hinein und denkt, dass das Le-ben trotz allem aufregend, spannend, unkompliziert, lebenswert ist. Er starrt ins Feuer, liebkost mit seinem Blick die Flammen. So haben es die Finnen in Tausen den von Jahren gemacht. Genau wie jetzt die Selbst mörder hier am Lagerfeuer im Schwarzwald, fern der Heimat. Leidgeprüfte Menschen, aus deren Gedanken die Schönheit des Lebens zu früh verschwunden ist.
28
Oberst Kemppainen und Helena Puusaari standen Hand in Hand im obersten Geschützturm der mittelalterlichen Festung Königsburg. Sie lauschten den englischsprachi gen Ausführungen der französischen Stadtführerin über die unterschiedliche Bedeutung der Burg vom Beginn des letzten Jahrtausends bis heute. Die Finnen hatten sich um die Frau geschart, Onni Rellonen übersetzte ihre Erklärungen halb laut für Rentiermann Uula Lis manki, der nicht die Gelegenheit gehabt hatte, Englisch zu lernen, als er in der Landschaft seiner Kindheit, den Fjälls von Utsjoki, die Rentiere hütete.
Vom Turm der an den Berghang gebauten Burg eröff nete sich ein herrlicher Blick auf das elsässische Tal. Die Weinberge, die sich über Hunderte von Hektar er streckten, wirkten wie ein grüner, sanfter Ozean, in dem kleine Dörfer und Städte wie verlockende Inseln schwammen. Die Schatten der Wolken segelten im leichten Morgenwind über die fruchtbare Ebene. Der Oberst errechnete, dass allein dieses üppige Tal wahr scheinlich pro Jahr so viel Weißwein produzierte,
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