Der Wunsch des Re
durften. Doch dafür verlangte der göttliche Barkenführer eine Entlohnung. War der Verstorbene inzwischen beraubt worden und konnte somit die Überfahrt nicht bezahlen, ließ er ihn einfach auf der Erde in seinem Ewigen Haus zurück.
Überrascht sah Meritusir von der Schriftrolle hoch.
»Deshalb wurden also die meisten Herrscher gefunden«, überlegte sie laut. »Ihre Gräber waren bereits geplündert worden, bevor die Götter nach ihnen schickten.« Nachdenklich starrte sie auf die wundervollen Schriftzeichen, die in ordentlichen Kolumnen niedergeschrieben worden waren.
Etwas verwirrt war sie allerdings. Ihr war bekannt, dass die alten Ägypter das, was in ihrer Zeit als Seele bezeichnet wurde, in drei Aspekte unterteilten: Ka, Ba und Ach.
Der Ka war der geistige Doppelgänger eines jeden Individuums und wurde durch den Gott Chons auf seiner Töpferscheibe geformt. Er entsprach dem Wesen, zu dem er gehörte. Ihm wurde geopfert, denn er musste mit Nahrung versorgt werden. Das schien der Grund zu sein, warum dem Verstorbenen neben alltäglichen Gütern auch Nahrung mit ins Grab gegeben wurde.
Der Ba war der sogenannte Seelenvogel und kam dem Begriff
Seele
am Nächsten. Er wurde in der Zeit, in der sie sich jetzt befand, als Vogel mit Menschenkopf dargestellt und lebte getrennt vom Körper. Auf Grabmalereien sah man ihn häufig auf einem Baum sitzend oder sich am Wasser einer Pfütze labend.
Der Ach hingegen stellte die geistige Kraft dar und wurde durch einen Ibis symbolisiert. Im Gegensatz zum Körper, der der Erde gehörte, war er ein Teil des Himmels.
»Vielleicht interpretiere ich den Text auch nur falsch«, murmelte sie grübelnd vor sich hin. »Vielleicht ist ja nicht die sterbliche Hülle gemeint, der vom Barkenführer zu den Sternen gebracht werden soll, sondern der Ach. Dann verstehe ich aber nicht, warum Tutanchamun es nicht an die Seite von Re geschafft haben soll. Sein Grab war weitgehend unberührt. Er hatte genug Schätze und Nahrung, um die Reisekosten zu begleichen.«
Sein Vater hat sich von den tausend Gottheiten Kemis abgewandt. Er hat seinen Untertanen verboten, sie anzubeten, und hat die Götter regelrecht verbannt
, meldete sich nach langer Zeit Meritusirs innere Stimme zu Wort.
Auch wenn Tutanchamun dem Gott seines Vaters Echnaton abgeschworen und wieder zu Amun gefunden hat, die Lehne seines Thronsessels zierte dennoch Aton.
Stimmt, dachte die Priesterin und war ausnahmsweise derselben Meinung. Vielleicht ist das der Grund. Zudem liegen zwischen Tutanchamun und Ramses VII. fast zweihundert Jahre und jede Menge Pharaonen. Wenn keiner von ihnen zu Re in die Sonnenbarke gelangt sein sollte, dann wird es mal wieder Zeit dafür.
Sie schmunzelte verstohlen vor sich hin. Dennoch nagten noch immer Zweifel an ihrem Herzen.
Plötzlich fielen ihr die Worte Seiner Majestät ein. Er hatte sie gefragt, ob er in seinem Grab in Abydos auch ungestört ruhen werde, bis ihn ...? An dieser Stelle hatte er seinen Satz abgebrochen und war nicht mehr gewillt gewesen, weiterzureden. Nun konnte sie sich das Ende denken: ... bis ihn die Götter abholen ließen!
»Es ist ihm also wichtig, dass sein Grab vor Plünderung und seine Mumie vor Schändung bewahrt werden, was natürlich verständlich ist«, gestand sie ein. »Dennoch, warum hat er sich danach erkundigt, ob die Mumien seiner Vorgänger erhalten geblieben sind, wenn es nicht unbedingt wichtig ist, um zu den Göttern zu gelangen?«
Warum hegst du Zweifel an dem, was du in der Schriftrolle gelesen hast? Kein Mensch hat seit über zweitausend Jahren dieses Wissen vermittelt bekommen. Glaube einfach, Sarah-Meritusir. Immerhin wolltest du auch nicht wahrhaben, dass es Götter gibt, selbst dann noch nicht, als du bereits einem begegnet bist.
Du hast ja recht, gab sie klein bei und stützte das Kinn in ihre linke Handfläche.
»Aber natürlich«, rief sie plötzlich aus und schlug sich die flache Hand gegen die Stirn. »Das Ritual der Mundöffnung. Warum wird es wohl durchgeführt, um der Mumie im Jenseits das Essen, Sehen, Sprechen, Hören und Riechen wieder zu ermöglichen, wenn der Körper nicht vonnöten ist? Die Mumie bleibt eine leere Hülle, wenn ihr nicht durch diese Zeremonie erneut Leben eingehaucht wird. Ich sollte einfach vertrauen und glauben, was ich gelesen habe.«
Sie erhob sich von ihrem Stuhl und streckte sich, um die Glieder mit Leben zu füllen.
Zumindest begriff sie nun endlich, warum sie hier war. – Sie war in dieser Zeit die
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