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Der Wunsch des Re

Der Wunsch des Re

Titel: Der Wunsch des Re Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anke Dietrich
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Wasser war kühl, und Ramses spürte ein angenehm prickelndes Gefühl auf seiner Haut. Als er mit den rituellen Waschungen fertig war, erklomm er die Stufen wieder. Er ließ sich ein Handtuch reichen, trocknete sich ab und band es sich anschließend um die Mitte.
    Nesamun führte ihn in ein kleines Gebäude seitlich des Zugangs zum Vorhof. Dort lag das kostbare Zeremoniengewand bereit, und daneben warteten in einer Truhe Doppelkrone, Krummstab und Geißel auf ihren rechtmäßigen Besitzer.
    Festlich gewandet, führte Ramses wenig später den Prozessionszug durch die noch immer in Dunkelheit liegenden Hallen, Höfe und Gänge des Tempels bis hin zum Allerheiligsten, wo der goldene Gott mit der steil aufragenden Federkrone ihn in seinem Schrein erwartete.
    In jenem Augenblick, da Re von Nut wiedergeboren wurde, erbrach er das tönerne Siegel des Schreins und öffnete die Türen. Es begannen die vorgeschriebenen täglichen Riten, die unter dem Gesang der heiligen Hymnen, dem monotonen Sprechgesang der Vorlesepriester und den Gebeten des Herrn der Beiden Länder vollzogen wurden. Die Luft war geschwängert vom Weihrauch und dem Duft der vielen Blumen, die in bauchigen Vasen überall verteilt am Boden standen. Ramses wusch und salbte den goldenen Gott. Er legte ihm frisches Leinen um die Schultern, schminkte sein Antlitz und behängte ihn mit kostbaren Juwelen. Zum Schluss wurden Amun-Re seine Speisen gereicht.
    Alles verlief wie an jedem Morgen. Heute jedoch wurde der Schrein nicht bis zum kommenden Tag wieder verschlossen. An diesem besonderen Morgen holten Priester die Barke des Gottes aus ihrer Kapelle, und Ramses setzte die Statue seines göttlichen Vaters hinein. Anschließend wurde die Barke verhängt, um die Götterfigur vor den Blicken des Volkes zu schützen, denn Amun war der Unsichtbare, den man auch den Verborgenen nannte, weil er ein Gott war, dessen Natur sich dem Verstehen der Menschen entzog.
    Die gleichen Rituale wurden bei Sonnenaufgang im Tempel der Mut und dem im Amun-Bezirk befindlichen kleinen Heiligtum des Chons zelebriert sowie vor der Statue des vergöttlichten Pharaos. Auch ihre Bildnisse wurden in ihre Barken gestellt und schwebten auf den Schultern auserwählter Priester in einer feierlichen Prozession durch die inneren Räume ihrer Heiligtümer hinaus zum jeweiligen Ausgangspunkt ihrer Reise nach Opet-resut.
    Dicht gedrängt warteten die höchsten Würdenträger auf dem Platz des Amun-Tempels auf das Erscheinen des Gottes und ihres Königs. Die großen schweren Tempeltore schwangen auf, und unter den Klängen von Sistren und Lauten, Trommeln und Flöten und dem lieblichen Gesang der Tempelsängerinnen erschienen die Zeremonienbarken des Amun-Re und die des Pharaos. Die Göttin Mut und ihr Sohn Chons traten derweil ihre Fahrt weiter südlich vor den Toren des Mut-Tempels an.
    Mitten auf dem Vorhof verharrte die Prozession mit einem Mal. Ramses, der an ihrer Spitze schritt, war stehen geblieben, wandte sich um und trat vor die Barke des Gottes.
    Ehrfürchtig verneigte er sich. Dann erklang laut und klar seine angenehm tiefe Stimme: »Großer Gott Amun-Re, Erschaffer des Lichtes, der Götter und der Menschen. Herr der Ewigkeit, dessen Schönheit die Herzen fesselt. Großer Gott, der du Mitleid hast mit den Armen und Gefangenen, den Witwen und Waisen, der du Güte zeigst und verzeihst. Großer Gott, der du das Flehen der Menschen erhörst und den Gerechten in den Schönen Westen schickst. Großer Gott Amun-Re, ich wende mich an dein Orakel.« Erstauntes Raunen entrang sich den Kehlen der anwesenden Würdenträger, verstummte aber sogleich, denn Ramses fuhr fort: »Es gibt einen Mann und eine Frau, die beide deinem göttlichen Schutz unterstellt wurden und auf deine Göttlichkeit einen Schwur geleistet haben. Großer Gott Amun-Re, Herr der Gerechtigkeit, der du den Schuldigen kennst, hat Amunhotep, Hohepriester von Abydos und Erster Prophet des Großen Gottes Osiris, einen Meineid geleistet?«
    Alle Augen waren gebannt auf die Götterbarke und ihre Träger gerichtet. Würde sich die Barke nach vorne neigen, wäre durch den Gott der Meineid des Priesters bestätigt, neigte sie sich jedoch nach hinten, war er unschuldig.
    Es war totenstill. Keiner wagte zu atmen. Selbst die Vögel schienen die Bedeutung dieses Moments zu spüren und sangen nicht mehr. Kein Hund bellte in Thebens Gassen, kein Säugling schrie in den Armen der Mutter. Selbst der stete Wind aus dem Norden schien eingeschlafen zu sein,

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