Der Wunschtraummann
unsere Köpfe stieben und tanzen wie winziger weißer Flitter. Es ist zauberhaft. Erhebend. Als stünde man mitten in einer Schneekugel, die jemand genommen und sanft geschüttelt hat.
In der einen Ecke steht eine kleine Bank zwischen unbelaubten Topfpflanzen, und wir nehmen beide Platz.
»Weißt du, jede Schneeflocke ist einzigartig, genau wie wir Menschen«, sagt er, streckt die Zunge heraus und fängt eine auf. »Als Kind fand ich das immer ganz unglaublich.«
Ich lächele und wende das Gesicht zum Himmel, sodass mir die Schneeflocken aufs Gesicht fallen. Winzige gefrorene Krümel, die sofort schmelzen. Hoch oben zwischen den Schornsteinen kommt man sich vor, als sei man Millionen Meilen entfernt vom normalen Leben unten auf der Straße. London ist ein Irrenhaus. Selbst nach fünf Jahren habe ich mich noch immer nicht so richtig an den allgegenwärtigen Lärm und Krach gewöhnt, die überfüllten Bürgersteige und das nicht enden wollende Brummen des Verkehrs.
An den meisten Tagen mag ich das sehr. Ich mag die Energie der vielen Leute. Man kann die Straße entlanglaufen und findet eine eklektische Mischung aus indischen Sari-Läden, marokkanischen Restaurants, thailändischen Cafés und Imbissbuden, die sich alle dicht aneinanderdrängen. Man kann mitten in der Nacht aufwachen und aus dem Fenster schauen und sieht über den Hausdächern noch immer die hell erleuchtete Stadt.
Aber manchmal wünschte ich mir auch, die Stadt hätte einen »Aus«-Knopf. Einen Schalter, den man umlegen kann und der alles zum Stillstand bringt, wie ein Karussell auf einem Jahrmarkt, sodass man kurz aussteigen und tief durchatmen kann.
So wie jetzt.
Wie ich mit Fergus hier oben stehe, habe ich das Gefühl, den Ausschalter gefunden zu haben. Alles ist so ruhig, so still …
Ein Windstoß erfasst mich, und ich zittere.
»Ist dir kalt?«, fragt er stirnrunzelnd.
»Nein, alles gut«, erwidere ich und ziehe den Mantel ein wenig fester um mich, aber das Zähneklappern verrät mich.
»Ja, klar«, schilt er mich, »komm her.« Und damit legt er den Arm um meine Schultern und zieht mich fest an sich. Er ist so groß, dass ich ganz leicht unter seine Achselhöhle passe, und eine Weile bleibe ich einfach so da sitzen, geborgen und warm, und sehe den Schneeflocken zu, die um uns herumtanzen. Gemütlich in die Nische zwischen Brustkorb und Arm geschmiegt.
In der Kuhle.
Das schrille Klingeln meines Handys unterbricht meinen Gedankengang, und ich krame hektisch in meiner Tasche. »Hallo?«
»Babe, hör mal, tut mir leid wegen vorhin …«
Es ist Seb, der sich entschuldigen will, weil er heute Abend nicht mitgekommen ist, und als ich seine Stimme höre, habe ich plötzlich Gewissensbisse, fast als hätte er mich bei etwas Unrechtem ertappt. Schnell springe ich von der Bank auf. Dabei ist das eigentlich völlig albern, schließlich hat Fergus mich doch bloß ein bisschen warm gehalten.
»Schon gut, Seb, kein Problem«, sage ich rasch und gehe zum anderen Ende der Terrasse. Er kommt mir fast wie ein Eindringling vor. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Fergus mir bedeutet, dass er wieder nach drinnen geht. Ich schaue ihm hinterher, wie er durch die bodentiefen Fenster verschwindet, und es tut mir richtig leid.
»Hör zu, ich habe das Gefühl, ich sollte am besten deinen Großvater anrufen und mich persönlich entschuldigen …«
Schlagartig bin ich wieder bei meinem Telefongespräch. »Nein!«, rufe ich. »Ich meine, das ist nicht nötig, es war ein toller Abend«, plappere ich.
»Na gut, wenn du meinst …«
»Ganz bestimmt«, entgegne ich entschieden. Im Geiste nehme ich einen Textmarker und unterstreiche meinen Vorsatz doppelt, so bald wie möglich meinen Opa anzurufen und ihn aufzuklären.
»Okay, ich mache das wieder gut«, verspricht er. »Wir fahren übers Wochenende weg.«
»Ach, wirklich?« Damit hatte ich nicht gerechnet.
»Morgen früh um sechs hole ich dich ab. Pack deinen Pass ein.«
Pass? Wir fahren ins Ausland?
»Wo fahren wir denn hin?«, kann ich gerade noch so herausbringen. Das geht alles so schnell, dass ich kaum hinterherkomme.
»Ich weiß es, und du wirst es noch erfahren«, zieht er mich auf.
»Aber woher soll ich denn dann wissen, was ich mitnehmen soll?«
Er lacht. »Keine Sorge, es ist für alles gesorgt«, beruhigt er mich, dann schweigt er kurz und sagt: »Weißt du, du hast mir heute Abend sehr gefehlt.«
»Du mir auch«, entgegne ich, aber es ist mehr ein Reflex, als dass es aus tiefstem Herzen
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