Der Wunschtraummann
musste, weil mir der letzte Bus vor der Nase weggefahren war. Nie wieder werde ich unterschätzen, wie gerne ich gemütlich auf dem Sofa sitze und X Factor schaue.
Man wacht ausgeruht und erfrischt auf. Als ich die Augen aufschlage, habe ich das Gefühl, von einem Doppeldeckerbus überfahren worden zu sein.
Am nächsten Morgen kann ich mich tatsächlich kaum rühren. Das Wort »Muskelkater« beschreibt nicht mal annähernd, wie ich mich fühle. Es ist, als sei ich über Nacht um hundert Jahre gealtert, und ich brauche eine halbe Ewigkeit, um aus dem Bett zu krabbeln. Allein der Gedanke daran, das Ganze heute noch mal über mich ergehen zu lassen, lässt mich schaudern, als ich völlig zerschlagen unter die Dusche schlurfe. Wenn das so weitergeht, kann ich nicht mal richtig laufen, geschweige denn snowboarden.
Aber nach fünfundvierzig Minuten unter den dampfend heißen Wasserstrahlen gelingt es mir, einen Rest Begeisterung und Entschlossenheit zusammenzukratzen, um es heute noch mal zu versuchen. Nach einem Tag kann man doch nicht einfach so aufgeben! Okay, dann war der gestrige Tag eben von vorne bis hinten eine Katastrophe, aber davon lasse ich mir doch nicht das ganze Wochenende verderben. Ich darf mir davon nicht das ganze Wochenende verderben lassen, ermahne ich mich streng. Das ist meine große Chance, Seb zu beweisen, dass ich die Richtige für ihn bin. Das darf ich auf keinen Fall vermasseln.
Nach der langen Dusche sind meine Muskeln immerhin locker genug, dass ich mir, ohne vor Schmerzen aufzuschreien, die Socken anziehen kann. Als ich schließlich fertig bin, gehe ich zum Frühstücken in die Küche, wo ich dann feststellen muss, dass alle anderen schon gegessen haben und sich bereits die Skistiefel anziehen.
»Hey, da bist du ja«, ruft Seb, als ich hereinkomme. »Wir machen uns gerade fertig und wollten gleich los.«
»Schon?« Mein Blick geht zur Kaffeekanne. In der schwimmt nur noch eine armselige Pfütze. »Ach, okay, dann hole ich mir auf dem Weg schnell einen Kaffee …«
»Nicht nötig«, meint Anna schnippisch. »Wir fahren nach Les Houches und boarden den Kandahar.«
»Was macht ihr?«, frage ich, lasse sie links liegen und drehe mich zu Seb um, damit er es mir erklärt. Wie gesagt, ich spreche kein Snowboarderisch.
»Kandahar ist eine berühmte Abfahrt, eine Weltcupstrecke. Wir wollen mit den Snowboards runter«, erklärt er.
»Und ich nehme mal an, nach einer Unterrichtsstunde wirst du das kaum schaffen«, wirft Anna herablassend ein. »Mach dir nichts draus.«
Ich habe mir alle Mühe gegeben, mit ihr warm zu werden, wirklich, aber es ist aussichtslos. Sie ist einfach eine dämliche Zimtzicke.
»Fahr doch mit uns in der Seilbahn nach oben«, schlägt Seb vor, der aus unerfindlichen Gründen immun ist gegen ihre spitzen Bemerkungen. »Die Aussicht ist grandios.«
»Und du kannst zusehen, wie dein Freund von ganz oben einen Abflug macht«, meint Chris grinsend und schnappt sich den letzten Toast, ehe ich zugreifen kann. Ungerührt stopft er sich eine Ecke in den Mund.
Mein Magen protestiert lautstark. Sagen wir lieber Kaffee und Toast.
»Dann kannst du ja wieder zum Idiotenhügel runterfahren«, schlägt Anna hämisch vor.
Ich ignoriere sie einfach. »Okay«, murmele ich matt. »Dann ziehe ich mich schnell an, bin gleich wieder da.«
Annas bissigen Kommentaren zum Trotz bin ich froh, mitgekommen zu sein, denn die Aussicht aus der Seilbahn entschädigt mich reichlich dafür, auf der Fahrt nach oben neben ihr sitzen zu müssen. Es ist unglaublich. Ich sehe zu, wie Seb sich vom Gipfel die Piste hinunterstürzt. Es geht fast senkrecht nach unten, aber er springt ganz selbstverständlich über die Kante und verschwindet mit den anderen den Abhang hinunter, und dann hört man nur noch ihr begeistertes Johlen, das zu mir heraufschallt.
Sollte ich noch einen Beweis gebraucht haben, dass ich nie ein Snowboarder werde, dann habe ich ihn jetzt. Ich muss all meinen Mut zusammennehmen, um auch nur über die Kante zu gucken .
Mit der Seilbahn fahre ich vom Berg wieder hinunter und besorge mir schnell eine Kleinigkeit zu essen, und dann gehe ich tapfer zu meiner nächsten Snowboardstunde auf den Idiotenhügel. Wobei mir, wenn ich ganz ehrlich bin, langsam ernste Zweifel kommen. Einstein sagte mal, die Definition von Wahnsinn sei, immer und immer wieder dasselbe zu tun und unterschiedliche Ergebnisse zu erwarten. Was a) genau meine Versuche beschreibt, Snowboarden zu lernen, und b) nur bedeuten
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