Der Wunschtraummann
Notizzettel gefunden. Na und? Das ist ohnehin ein vollkommen lächerliches System. Haftzettel als Gedächtnisstütze an meinen Monitor zu kleben. Also ehrlich! Das muss ja nicht zwangsläufig heißen, dass ich es nicht erledigt habe. Zugegeben, ich schiebe es immer bis zum letzten Moment auf, den Pass an die Botschaft loszuschicken, aber vergessen habe ich es noch nie.
Ich versuche mich zu konzentrieren, aber in meinem Kopf dreht sich alles. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen. Du suchst jetzt seinen Pass, ermahne ich mich streng. Ja, klar, ich muss nur Sir Richards Pass finden, mich vergewissern, dass das Visum drin ist, und dann kann ich aufhören, mir grundlos Sorgen zu machen. Das ist, wie wenn ich den Schlüssel verloren habe und er die ganze Zeit in meiner Handtasche steckte; ich kann mich bloß nicht daran erinnern, ihn da reingetan zu haben. Genauso ist es mit dem Visum für Indien, bestimmt.
Also mache ich mich daran, meine sämtlichen Schreibtischschubladen auszuleeren, und mittendrin spaziert Wendy, die Hexe, vorbei und macht eine schnippische Bemerkung, »ein aufgeräumter Geist braucht einen aufgeräumten Schreibtisch«, auf die ich gar nicht erst antworte. Ich bin zu sehr damit beschäftigt, hektisch den ganzen Müll zu durchforsten … ein Päckchen Tütensuppe … Notfallstrumpfhose … Mini-Nähset … ein Umschlag mit einigen Formularen drin und – ach du lieber Himmel, da ist er ja! Sir Richard Blackstocks Reisepass!
Mir fällt ein riesengroßer Stein vom Herzen. Rasch nehme ich ihn aus dem Umschlag und blättere ihn durch. Er ist voller Visumsstempel von all seinen vielen Reisen. China … Hongkong … Australien … und dahinter leere Seiten.
Nein, da kann doch was nicht stimmen. Ich habe zu schnell umgeblättert, ich muss ihn übersehen haben. Zitternd fange ich noch mal von vorne an. Diesmal ganz langsam. Seite um Seite. Bis zum Ende.
Nein, das kann nicht sein.
Da ist kein Visum für Indien.
Entsetzt starre ich auf die leeren Seiten. Es ist nicht da! Der Haftzettel muss von meinem Monitor gefallen sein, und ich habe vergessen, den Pass zur Botschaft zu schicken.
Und morgen früh geht sein Flug .
Panisch schaue ich auf die Uhr, aber es ist schon kurz vor vier. Es ist zu spät. Bis ich mit dem Taxi in der Botschaft bin, hat die längst geschlossen. Und ganz bestimmt würden sie den Antrag auch nicht gleich auf der Stelle bearbeiten.
Und dann habe ich plötzlich Sir Richards Worte wieder im Ohr. »Aber ich bin mir nicht sicher, wie lange das bei der derzeitigen Marktlage noch so bleibt, weshalb meine Reise nach Indien morgen auch so entscheidend ist … Das ist nicht bloß irgendeine Geschäftsreise, es ist viel mehr als das.« Schlagartig werden mir die Konsequenzen meines Versagens bewusst, und mir wird übel. Ich hab’s vermasselt. Und zwar gründlich.
Das Herz schlägt mir bis zum Hals, und mir ist schwindelig.
Was zum Teufel mache ich denn jetzt?
Zweiunddreißigstes Kapitel
»Tess? Alles okay? Tess? «
Es kommt mir vor, als sei ich unter Wasser abgetaucht. Alles ist ganz weit weg, und ich höre nur ganz entfernt gedämpfte Geräusche, kann aber nicht ausmachen, woher sie kommen. Stattdessen wird das Rauschen in meinen Ohren lauter und lauter, während alles andere um mich herum langsam verblasst. Die Umrisse verschwimmen. Alles versinkt in Dunkelheit …
» TESS !«
Unvermittelt komme ich wieder an die Oberfläche, schnappe nach Luft und sehe, wie Fergus mich besorgt anschaut.
»Hm?«, brumme ich. Mir ist schwindelig. Ich glaube, ich kippe gleich um.
»Herrje, Mädel, was ist denn los mit dir?«, schimpft er.
Mein Hirn ist wie ein Computer, der gerade neu gestartet wird. Völlig erschüttert starre ich ihn eine Weile bloß an. »Ich habe was ganz Schreckliches getan«, bringe ich schließlich mühsam geflüstert heraus.
»Was hast du getan?«, fragt er und beugt sich zu mir herunter, damit er mich besser verstehen kann.
Ich schlucke schwer und versuche, mein rasendes Herz zu beruhigen. »Ich habe echt Bockmist gebaut«, sage ich mit gesenkter Stimme.
»Sag nicht, sie haben dich dabei erwischt, wie du dich als Anrufbeantworter ausgibst«, neckt er und grinst mich schelmisch an.
»Es ist wirklich schlimm«, raune ich ihm zu, und es kommt mir vor, als seien die Konsequenzen plötzlich nicht mehr überschaubar.
»Was könnte denn schlimmer sein, als sich als Anrufbeantworter auszugeben?«, fragt er lachend.
»Fergus, das ist nicht komisch!«, fahre ich ihn den
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