Der Wunschtraummann
Tränen nahe an. »Es ist sehr ernst.«
Dieser Ausbruch scheint ihn zu bestürzen. »Entschuldige, ich wusste ja nicht …« Er kommt um den Schreibtisch herum und zieht meinen Stuhl heraus. »Hör zu, setz dich erst mal, und dann erzählst du mir alles …«
»Dazu habe ich keine Zeit!« Ich kreische beinahe hysterisch.
Kym, die gerade von der Toilette zurückgekommen ist, schaut verdutzt auf und sieht zu uns rüber.
»Was ist denn los, ihr zwei?«, fragt sie und zieht misstrauisch eine Augenbraue hoch.
Himmel, das ist wirklich das Allerletzte, was ich jetzt brauche: Dass Kym rausfindet, was ich gemacht habe. Oder vielmehr nicht gemacht habe.
Aber sie wird es ohnehin bald erfahren, geht mir da auf, und Panik macht sich breit. Alle werden es bald erfahren.
»Ach, gar nichts«, sage ich und zwinge mich, ganz unbeteiligt zu klingen. »Fergus treibt mich mal wieder in den Wahnsinn, weiter nichts.« Und dann lache ich angestrengt.
»Haha, ja, genau, ich treibe sie in den Wahnsinn«, springt Fergus mir bei.
Er mag zwar Schauspieler sein, doch sein Lächeln ist so künstlich und aufgesetzt, das nimmt ihm niemand ab. Wie Lachen aus der Konserve, nur schlimmer.
»Hmm, soso …«, murmelt Kym, so gar nicht überzeugt. »Na ja, aber wenn es neuen Klatsch gibt, müsst ihr es mir unbedingt erzählen«, sagt sie ein bisschen angesäuert. »Ich langweile mich hier zu Tode.«
»Versprochen«, sage ich leichthin und zwinge mich zu einem Lächeln, während sie weitergeht zum Empfang.
Mist. Wenn sie den neuesten Klatsch hören will, wie wäre es damit: Das Unternehmen steht kurz vor dem Zusammenbruch, weil ich gerade die lebenswichtige Reise unseres Firmenchefs nach Delhi vermasselt habe, und wir werden alle unseren Job verlieren?
Bei dem Gedanken läuft es mir eiskalt den Rücken runter, und ohne nachzudenken schnappe ich mir meinen Mantel. Dann stecke ich Sir Richards Pass mit all den Formularen wieder in den Umschlag und stopfe ihn in die Tasche.
»Wo willst du denn hin?«, fragt Fergus mich mit besorgter Miene.
»Keine Ahnung …« Ich breche ab und schüttele den Kopf. »Ich muss ein bisschen frische Luft schnappen. Durchatmen. Nachdenken .«
»Warte, ich komme mit.«
Ohne zu zögern folgt er mir, als ich nach draußen stürze, vorbei an Kym, die vom Telefon aufschaut, als wir hinauslaufen, und den Mund aufmacht, um etwas zu sagen: Aber es ist zu spät, ich bin schon zur automatischen Schiebetür hinaus, Fergus auf meinen Fersen.
»Was ist denn los?«, japst er, als die kalte Luft uns entgegenschlägt.
Ich zögere. Irgendwie sträube ich mich dagegen, es laut auszusprechen. Momentan bin ich die Einzige, die es weiß, und wenn ich einfach so tue, als wäre nichts, dann kann ich mir vielleicht einreden, alles sei in bester Ordnung.
»Tess, rede mit mir!«, herrscht Fergus mich an.
Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Ich will es ihm nicht sagen, denn wenn ich das tue, dann wird es wahr.
Aber wem will ich was vormachen? Es ist wahr, ob ich es ihm sage oder nicht.
Also atme ich tief durch und platze dann damit heraus: von dem Pass und dem Visum, der Reise nach Indien und der prekären Lage des Unternehmens.
»Und jetzt geht alles den Bach runter meinetwegen, weil ich es versiebt habe!«, jaule ich.
Fergus macht ein sehr ernstes Gesicht. Er hat die ganze Zeit kein Wort gesagt, sondern mir nur mit einer tiefen Furche auf der Stirn aufmerksam zugehört.
»Das muss doch irgendwie noch hinzubiegen sein«, sagt er schließlich kopfschüttelnd. »Muss es einfach.«
»Ist es aber nicht. Die Botschaft schließt um halb fünf, und selbst wenn wir es noch rechtzeitig schaffen, wird der Antrag ja nicht gleich bearbeitet. Es ist zu spät …«
»Es ist nie zu spät, einen Fehler wiedergutzumachen«, widerspricht Fergus mir in einem ruhigen, entschlossenen Ton. Dann bückt er sich, schließt sein Fahrrad auf und dreht sich zu mir um. »Steig auf«, befiehlt er knapp.
Verständnislos stiere ich ihn an. »Wie bitte?«
»Wir fahren zur Botschaft.«
»Was? Wir beide? Aber wir haben doch nur ein Fahrrad.«
»Ich nehme dich mit.«
Beunruhigt sehe ich ihn an. »Ist das nicht gefährlich?«
»Sehr«, entgegnet er. Er löst den Riemen seines Helms, nimmt ihn ab und reicht ihn mir. »Zieh den an.«
Ich zögere. Auf keinen Fall will ich das Risiko eingehen, auf dieses Rad zu steigen. Aber wenn auch nur die allerkleinste Chance besteht, dass ich das wiedergutmachen kann, dann muss ich es riskieren. Selbst wenn ich bei dem
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