Der Wunschtraummann
achtundzwanzig!«, rufe ich ungehalten. Dann wirbele ich wieder herum und hämmere gegen die Tür.
Ein Wachmann erscheint auf der anderen Seite der Tür. »Geschlossen«, erklärt er streng durch das Sicherheitsglas.
»Es ist doch noch gar nicht halb fünf«, protestiere ich, »es sind noch zwei Minuten.«
»Nach meiner Uhr nicht«, sagt er barsch.
»Aber ich brauche ganz dringend ein Visum«, versuche ich zu erklären, doch er lässt sich nicht erweichen.
»Dann müssen Sie wohl morgen wiederkommen«, entgegnet er ungerührt.
»Ich kann morgen nicht wiederkommen!«, zetere ich, und meine Stimme wird höher und schriller. »Es ist für meinen Chef, sein Flieger nach Indien geht schon morgen früh.«
»Tja, dann wird er wohl nicht drinsitzen, was?«, sagt er mit einem Schulterzucken, das zeigt, wie gleichgültig ihm das ist.
Ich starre ihn an und würde am liebsten gleichzeitig schreien und in Tränen ausbrechen. »Bitte!«, flehe ich verzweifelt. Ich kenne keine Scham. Wenn’s sein muss, bettle ich auch.
Mit einem finsteren Blick schließt er die Jalousie.
Im ersten Augenblick stehe ich bloß da und kann gar nicht begreifen, was gerade passiert ist. In diesem Moment hängt für mich noch alles in der Luft wie Wily Coyote, der über eine Klippe rennt und, bis er nach unten schaut, gar nicht merkt, dass er den Boden unter den Füßen verloren hat.
Und dann schaue ich nach unten.
Die Realität trifft mich wie ein Schlag, und meine Hoffnung zerplatzt wie eine Seifenblase. Das war’s. Es ist aus. Die Firma wird pleitegehen. Menschen werden ihren Job verlieren. Und das alles meinetwegen .
Ich wende mich von der Tür ab und sacke niedergeschlagen in mich zusammen. »Es ist zu spät«, sage ich leise zu Fergus, der ungeduldig gewartet hat. »Ich habe alles vermasselt.«
»Hey, sei nicht so streng mit dir«, sagt er sofort und legt mir eine Hand auf die Schulter. »Du hast versucht, es wiedergutzumachen. Jeder kann mal einen Fehler machen.«
»Aber nicht so einen kapitalen«, sage ich mit erstickter Stimme und spüre, wie mir die Tränen fast den Hals zuschnüren, »und nicht so einen dämlichen. Hier geht es nicht um mich, ich bin egal, es geht um die anderen …« Ich habe Tränen in den Augen und muss sie wegblinzeln. »Die Leute haben Kinder, sie haben Hypotheken …«
»Hey … hey«, sagt er und legt den Arm um mich, als ich anfange zu weinen, und ich lehne den Kopf an seine Brust. »Komm schon, die verstehen das, das sind doch deine Freunde, die wissen, dass du das nicht mit Absicht gemacht hast …«
Den Rest des Satzes höre ich nicht mehr, weil ich mir die Augen aus dem Kopf heule. Dicke fette Tränen laufen mir über die Wangen, als würden sie nie wieder versiegen. Ich habe ja schon oft Fehler gemacht, doch noch nie einen so schlimmen. Wie konnte ich bloß so dämlich sein? Wie? Wie?
Ich weiß nicht genau, wie lange wir beide so dastehen: Zwei Menschen mitten auf dem Bürgersteig, an einem kalten, grauen Januartag, während der Verkehr und das Leben um sie herum weiterbrummen. Ich kneife die Augen fest zusammen, als könne ich so alles vergessen, und will gar nichts mehr denken. Irgendwann höre ich dann, wie eine Tür aufgeht, und dann gedämpfte Stimmen und den Wachmann, der uns ankläfft: »Machen Sie bitte die Tür frei, damit das Personal rausgehen kann!«
»Komm schon, Tess, es bringt nichts, hier herumzustehen.«
Ich höre Fergus’ weichen irischen Akzent an meinem Ohr und schaue mit verheulten Augen auf. Ich sehe, wie ein paar Leute das Gebäude verlassen, und den Wachmann, der finster zu mir rüberschaut. Fergus hat recht, es bringt nichts. Es ist vorbei.
Grob wische ich mir mit dem Ärmel über das Gesicht und mache einen Schritt zurück. Ich merke, wie einige der Angestellten zu uns herschauen und sich wohl flüchtig fragen, was es mit dem Mädel mit dem verquollenen Gesicht, das ganz offensichtlich geweint hat, und dem dunkelhaarigen Fahrradkurier, der es zu trösten versucht, auf sich hat. Und dann bin ich genauso schnell wieder vergessen und muss wichtigeren Gedanken Platz machen, wie beispielsweise Freunde im Pub zu treffen, die U-Bahn-Fahrt nach Hause oder das Abendessen für die Kinder.
Aber ich bleibe stehen. Denke an das Schicksal, das mich im Büro erwartet: Ich werde Sir Richard die ganze Sache beichten müssen. Bei dem Gedanken wird mir ganz schwer ums Herz. Das Schlimmste ist, er wird nicht mal wütend auf mich sein, dazu ist er ein viel zu netter Mensch, er wird nur
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