Der Wunschtraummann
Versuch von einem Doppeldeckerbus zerquetscht werde.
»Komm schon, beeil dich!«
Also setze ich Fergus’ Helm auf und klettere in den Sattel. »Meinst du, wir schaffen es noch rechtzeitig?«, frage ich atemlos, als er in die Pedale tritt.
»Normalerweise schaffe ich es bis zur Victoria Street in einer halben Stunde.« Er wirft einen Blick auf die Uhr. »Verflixt, die Botschaft schließt in nicht mal zwanzig Minuten.«
»Schaffen wir das?«
»Halt dich fest!«, ruft er, und dann sausen wir auch schon mit einigen kräftigen Pedaltritten eine Seitenstraße hinunter.
Das überlebe ich nicht! Ganz ehrlich, das wird genau wie bei Zwei an einem Tag . Bloß gehen wir diesmal beide drauf. Ich und Fergus. Von einem Laster zerquetscht. Oder von dem Auto überrollt, das uns gerade geschnitten hat …
Argh!
Während ich mich verzweifelt festklammere, die Arme fest um Fergus’ Taille geschlungen, lenkt der das Fahrrad blitzschnell um die Haube des Autos herum, und schon schießen wir eine Nebenstraße entlang. Man merkt, dass er ein echter Profi ist. Er ist nicht nur unglaublich fit – ich schwöre, ich habe noch nie solche Wadenmuskeln gesehen; die pumpen buchstäblich wie Kolben –, nein, er ist auch noch ein menschliches GPS . Er saust durch kleine Seitengassen, kurvt im Zickzackkurs durch enge Straßen und fliegt durch London wie eine silberne Kugel, die den Stau und Großstadtverkehr einfach hinter sich lässt.
Ich halte mich an ihm fest und sehe, wie der Asphalt unter uns vorbeifliegt. Ich habe eine Heidenangst. Ich gehe nie Risiken ein. Ich hasse Gefahren. Ich schnalle mich selbst hinten in den berühmten schwarzen Londoner Taxen an. Ich meine, klar, eigentlich soll man das, aber wer macht das schon?
Ich. Ich mache das.
Wenigstens hindert die Todesangst mich daran, an das Visum zu denken. Und was passiert, wenn wir es nicht rechtzeitig schaffen.
Bei dem Gedanken überkommt mich wieder schreckliche Panik. Aber sollte ich sterben, dann entgehe ich wenigstens dem grausamen Schicksal, das mich bei Blackstock & White erwartet, tröste ich mich. Ich muss Sir Richard nicht in die Augen schauen und nicht die Gesichter der anderen sehen, wenn sie erfahren, dass sie alle bald auf der Straße stehen …
Nein, stopp! So weit wird es nicht kommen, sage ich mir sehr bestimmt. Das darf nicht passieren! Wir müssen einfach rechtzeitig hinkommen!
Wir fahren über die Hammersmith Bridge und rasen dann die Uferpromenade des Chelsea Embankment entlang und folgen der Themse auf ihrem verschlungenen Weg durch London. Hier und da findet ein Sonnenstrahl seinen Weg durch die dichten Wolken wie ein Lichterspiel, und die winterlichen Lichtflecken tanzen auf dem Wasser. Wir fahren in östlicher Richtung, vorbei am stehenden Verkehr, und halten auf die Victoria Street und den Buckingham Palace zu.
Kein einziges Mal geraten wir ins Stocken. Fergus macht das den ganzen Tag lang, und er kennt die Stadt wie seine Westentasche. Im Vorbeifahren sieht man die Bilderbuchgärten mit den Eisenzäunen, die weißen stuckverzierten Häuser, die majestätischen Gebäude, die sich über das Gewimmel der Stadt erheben. Vergessen Sie Touristenrundfahrten mit offenen Doppeldeckerbussen: So sollte man London erleben. Jetzt verstehe ich auch, warum er so gerne Rad fährt – es kommt einem vor, als sei die Stadt ein lebendes, atmendes Wesen und man selbst ein Teil davon.
Und dann, ehe ich mich’s versehe, fliegen wir um eine Ecke, und dort, gleich vor uns, ist die indische Visumstelle.
»Wir haben es geschafft!«, japst Fergus, bremst abrupt ab und hält an. Er springt aus den Pedalen. Unfassbar, dass seine Beine nicht einfach unter ihm nachgeben.
»Ach du liebes bisschen, unglaublich … wir sind ja schon da …«, stammele ich ungläubig. Und noch unglaublicher ist es, dass ich heil und in einem Stück hier angekommen bin, denke ich, als er mir vom Rad hilft. Das Herz schlägt mir bis zum Hals, und obwohl ich überhaupt nicht gestrampelt habe, zittern mir die Knie. Außerdem bin ich ganz außer Atem. Teils aus Angst, teils aus Anspannung, teils aus purem Grauen .
Zusammen rennen wir zur Tür und wollen sie aufdrücken, aber …
»Zu!«, heule ich und drehe mich zu Fergus um.
»Das kann doch nicht sein! Wir haben nur achtzehn Minuten hierher gebraucht, ich habe die Zeit gestoppt!«, protestiert er und zeigt auf seine Uhr. »Wie spät ist es auf deiner Uhr?«
»Ähm … Moment …« Ich fingere nach meiner Armbanduhr. »Erst vier Uhr
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