Der Wunschtraummann
selbst war es, der für uns keine Zukunft gesehen hat.
Und nun kann ich zum ersten Mal auch keine mehr sehen.
Nach diesen turbulenten Tagen verläuft der Rest der Woche relativ ruhig. Was mir eigentlich ganz recht ist. Denn ehrlich gesagt brauche ich nicht noch mehr seelische Erschütterungen, die mein Leben auf den Kopf stellen. Ich komme mir ein wenig vor wie damals als Kind. Ich war ungefähr sechs, da haben wir uns immer gegenseitig eine Augenbinde angelegt, und dann haben einen die anderen im Kreis um die eigene Achse gedreht und rissen einem irgendwann die Binde runter, und dann taumelte man hilflos umher und versuchte, möglichst nicht hinzufallen.
Aber eigentlich ist alles okay, ich muss nur wieder ein bisschen zu mir kommen, sage ich mir sehr bestimmt. Ich sollte alles schön langsam angehen lassen und mein inneres Gleichgewicht wiederfinden. Ja, vermutlich muss ich mich einfach mal wieder so richtig langweilen.
Offen gestanden glaube ich, Langeweile wird völlig unterbewertet. Manchmal muss man sich im Leben so richtig langweilen. Man muss auch mal genüsslich herumgammeln können. Zwar wird immer behauptet, Veränderungen seien was Gutes, aber augenblicklich könnte ich ein wenig gepflegte Langeweile sehr gut vertragen, besten Dank.
Und ganz im Sinne von geistiger Leere und Stumpfsinn beschließe ich, am Wochenende mein Zimmer aufzuräumen und mal ordentlich auszumisten. Seit Silvester habe ich alles schleifen lassen: Ein Riesenberg Wäsche hat sich angesammelt und ein Haufen Bügelwäsche, und mein Schrank platzt beinahe aus allen Nähten und quillt über vor Klamotten, die ich nie anziehe …
Ich öffne die Tür und betrachte missbilligend das Chaos. Bilde ich mir das nur ein oder trägt man ohnehin fünfundsiebzig Prozent seiner Kleider nie?
Es ist acht Uhr am Samstagmorgen, und ich bin bereits wach und koffeiniert und gehe die Kleiderbügel einen nach dem anderen durch, wobei mir Dinge in die Hände fallen, die ich schon seit einer Ewigkeit nicht mehr anhatte, wenn ich sie denn überhaupt je mal getragen habe. Das reicht, ich werde nie wieder irgendwas kaufen, sage ich mir streng, während ich bündelweise Klamotten zusammenraffe und in eine Tüte stopfe, um sie anschließend in den Secondhandladen zu bringen. Sieh mal! Da ist sogar noch das Preisschild dran! Schuldbewusst ziehe ich den Kopf ein und gucke schnell weg. Okay, was kann sonst noch weg? Suchend schaue ich mich im Zimmer um, und mein Blick fällt auf das Obama-Buch, das noch immer erwartungsvoll, aber ungelesen auf meinem Nachttischchen liegt. Und auch niemals gelesen werden wird.
Na ja, vielleicht kann es ja das Leben von jemand anderem verändern, denke ich mir und stecke es erleichtert und zufrieden zu den Kleidern in die Tüte. Ach, und da ist ja auch die Unterwäsche, die Seb mir gekauft hat. Ich spähe in die Tüte und wickle das Seidenpapier ab – und darunter kommt ein strassbesetzter Stringtanga zum Vorschein. Ich halte ihn mit spitzen Fingern zwischen Zeigefinger und Daumen wie eine Schleuder. Mir tränen fast die Augen bei der Vorstellung, wo dieses strassbesetzte Teil hingehört – Gott sei Dank muss ich dieses Ding jetzt nicht mehr anziehen.
Die Tüte ist inzwischen zum Bersten voll, also schnappe ich mir rasch einen alten Karton, in den ich das kleine Strassdings werfe, zusammen mit dem Obama-Buch, das die ohnehin vollgestopfte Mülltüte fast zum Zerreißen bringt. Und dann schaue ich mich um, was ich sonst noch so ausmisten könnte. Wie beispielsweise das Stück Treibholz von dem Tag, als wir gemeinsam am Strand spazieren waren. Vielleicht mag das ja jemand haben. Kurz entschlossen stopfe ich es in den Karton und halte dann unvermittelt inne …
Moment mal …
Den Karton noch in den Händen stöbere ich eine Weile im Zimmer herum und sammele diversen Nippkram ein. Auf meiner Kommode entdecke ich den Korken der Rotweinflasche neben dem Konzertarmbändchen; gleich neben dem Kamin liegt ein Streichholzschächtelchen von Mala; eins von Sebs Plektren hat es irgendwie bis in meine Reisetasche geschafft, genauso wie das abgerissene Ticket für meine Snowboardstunden … und was habe ich denn hier noch in der Jeanstasche?
Ich ziehe die abgerissenen Kinokarten von dem Abend heraus, als wir uns Star Wars angeschaut haben, und werfe sie in den Karton. Was noch? Ach ja, das Foto von der Hochzeit. Entschlossen gehe ich zum Schrank, greife in meine Jacke und hole etwas altes Konfetti heraus und ein Polaroidfoto von Seb und
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