Der Wunschtraummann
nicht, sie fortzuwischen. Diesmal vergrabe ich das Gesicht in den Händen und heule Rotz und Wasser.
Wie lange ich so dahocke, weiß ich gar nicht, aber irgendwann streift mich etwas Warmes, Weiches, und als ich aufschaue, steht Flea da und drückt sich gegen mein Bein. Ich wische mir die verquollenen Augen, nehme ihn auf den Arm und drücke das kleine kuschelige Bündel Katze fest an mich. Ich bereue unendlich viel. Im Nachhinein hätte ich gerne so viel anders gemacht; so viel sagen wollen oder lieber nicht gesagt, so viele Fehler rückgängig gemacht … Ich seufze tief … aber das ist jetzt alles müßig. Es ist passiert, und ich wünschte bloß, ich könnte den ganzen Schmerz und die Selbstvorwürfe ungeschehen machen und ein für alle Mal vergessen.
»Hattest du schon mal Liebeskummer?«, frage ich Flea und kraule ihn unter dem Kinn. »Nein, dazu bist du viel zu klug. Tja, ich kann dir sagen, schön ist das nicht.« Ich werfe einen Blick auf mein Handy, das stumm auf meinem Bett liegt. Kurz bin ich versucht, Seb einfach anzurufen oder ihm eine SMS zu schicken …
Aber das ist einfach lächerlich. Erbärmlich, könnte man sogar sagen. Und außerdem ist er heute Abend bestimmt auf einer Party und amüsiert sich, meldet sich eine fiese kleine Stimme in meinem Kopf. Mein Herzschmerz wird verdrängt von plötzlich aufflackernder, heißer Wut, und ich nehme noch einen kräftigen Schluck Tequila. Komm schon, Tess, reiß dich zusammen. Er soll doch nicht wissen, dass du dir hier die Augen ausheulst. Wo ist denn bitte dein Stolz geblieben, Mädel? Zum Teufel mit Seb Fielding!
Entschlossen schnappe ich mir ein Taschentuch und putze mir so energisch die Nase, dass Flea von meinem Schoß flüchtet. Dabei tritt er auf die Fernbedienung und dreht mit der Pfote die Lautstärke auf.
»Das neue Jahr ist beinahe da, keine Minute mehr bis Mitternacht!«, zwitschert die Moderatorin fröhlich. »Also, Andrew, welche unserer Silvestertraditionen magst du persönlich am liebsten?«
Ich sehe zu, wie die Kamera auf Andrew schwenkt. Er hat immer noch die glitzernden Hörnchen auf dem Kopf und grinst wie ein Honigkuchenpferd in die Kamera. »Tja, Kerrie, mein Lieblingsbrauch ist ein uraltes Ritual, bei dem man ein Blatt Papier nimmt und alles aufschreibt, wovon man sich befreien will, seien es Dinge, die man bereut, oder schmerzhafte Erinnerungen, schlechte Angewohnheiten oder Süchte, und um Schlag Mitternacht wirft man dann alles ins Feuer.« Er gluckst leise in sich hinein. »Wobei es damals natürlich weder Bleistift noch Papier gab, weshalb die Menschen Gegenstände oder Bilder nahmen als Symbol für all diese Dinge.«
»Aber warum denn ausgerechnet ins Feuer?«, fragt Kerrie stirnrunzelnd.
»Weil viele Kulturen glauben, durch Verbrennen könne man sich unliebsamer Dinge entledigen. Man befreit sich davon, um diese Last nicht mit ins neue Jahr zu nehmen.«
»Wow, wirklich faszinierend!«, ruft Kerrie mit weit aufgerissenen Augen. »Unglaublich.«
Trotzig trinke ich noch einen Schluck Tequila. Das kann einfach nicht ihr Ernst sein. Die glaubt doch wohl nicht etwa diesen ganzen Käse?
»Ja, genau«, meint Andrew und nickt hektisch, »und noch viel wichtiger ist, wenn die Flammen diese Dinge verzehren, dann stieben Funken auf und fliegen in den Himmel. Und dann darf man sich etwas wünschen! Denn was immer man sich wünscht, wird von diesen Funken ins neue Jahr getragen …«
»Tja, wenn das so ist, soll ich euch sagen, was ich mir wünsche …?«, meckere ich Andrew und Kerrie betrunken an.
Im Fernsehen schlägt Big Ben jetzt Mitternacht, und ohne nachzudenken nehme ich den Schuhkarton und werfe das ganze Ding mit vor Wut und Enttäuschung krampfendem Herzen ins Feuer.
»Ich wünschte, ich wäre ihm nie begegnet!«
Sofort fängt der Karton Feuer, und wie ich so dasitze und zuschaue, wie meine Beziehung zu Seb in Flammen aufgeht, all die schmerzlichen Erinnerungen verbrennen, meine Selbstzweifel, der Liebeskummer, da sehe ich einen einzelnen winzig kleinen Funken aufsteigen.
Und dann ist er weg, im Schornstein verschwunden hat der Wind ihn mitgenommen …
Fünftes Kapitel
Aaaarrrgghh .
Das Nächste, was ich mitbekomme, ist, dass ich am nächsten Morgen aufwache und mein Kopf sich anfühlt wie ein Betonklotz. Ein pochender Betonklotz. Mühsam klappe ich ein verklebtes Auge auf und zucke zusammen, als ein matter winterlicher Lichtstrahl schmerzhaft meine Iris trifft.
Wo bin ich? Wie spät ist es? Warum habe ich das
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