Der Wunschzettelzauber
erbrach, über die seltsamen Halluzinationen, die man in schlaflosen Nächten haben konnte, eben über alles, was jetzt zu ihrem tagtäglichen Leben gehörte. Und es war erstaunlich, wie lustig diese Dinge plötzlich erschienen, wenn man ähnliche Erlebnisse von anderen zu hören bekam, die sich in der gleichen Lage befanden und einen mit Beifallsgelächter anspornten.
Es war wie eine Erleuchtung für Chloe gewesen, als sie erfuhr, dass die beiden anderen, obwohl sie nicht um jemanden trauerten, sich trotzdem durch die Mutterschaft manchmal völlig überfordert fühlten. Auch sie rasteten manchmal vor lauter Frust fast aus, wenn ihre Babys absolut nicht einschlafen oder nicht essen wollten. Sie entdeckte, dass sie keineswegs so verrückt war, wie sie geglaubt hatte. Oder vielmehr, sie erkannte, dass alle Mütter mit kleinen Kindern manchmal etwas Verrücktes an sich hatten, und das war ihr eine groÃe Erleichterung.
Nach Sallys Geschichte über Sportacus sagte Kaja plötzlich: »Als ich noch kleine Mädchen war, meine Mama hat mir Wodka-Socke gegeben.«
Ihre tagtäglichen Gespräche brachten das Englisch der Estin sprunghaft voran, aber sie konnte die beiden anderen trotzdem immer noch mit ihren ominösen Feststellungen in Verwirrung stürzen. Oft geschah das, weil sie der Unterhaltung ihrer englischen Freundinnen hinterherhinkte â bis sie ihren nächsten, sorgfältig konstruierten Antwortsatz parat hatte, sprachen die beiden oft schon von etwas anderem.
»Eine Wodka-Socke?«, entgegnete Chloe, zweifelnd den Kopf schüttelnd. »Das Wort gibt es nicht im Englischen.«
»Nein, Dummerchen, sie meint bestimmt Wodka Soda «, warf Sally ein.
»Natürlich«, versetzte Chloe lachend, »weil das auch viel normaler wäre, wenn eine Mutter ihrem Kind einen Drink einflöÃt.«
»Nein, nein, nein, nein!«, rief Kaja ungeduldig und winkte heftig ab. »Ach, ihr seid ⦠äh â¦Â« Sie suchte nach einer Ãbersetzung für einen estnischen Ausdruck. »Ihr seid dumm wie Tischbein. Ihr seid â¦Â«Â â Wie lautete doch gleich der Ausdruck, den Sally immer benützte? Ach ja. »Ihr seid Seppen«, schloss sie strahlend und blickte von einer zur anderen. »Du und du.«
»Deppen«, verbesserte Sally. »Wir sind Deppen, SüÃe.«
»Stimmt genau«, bemerkte Chloe ungerührt.
»Ihr nehmt Socke, nicht wahr?«, begann Kaja geduldig von Neuem. Der Zusatz »nicht wahr« hatte es Kaja sehr angetan, und sie benützte ihn begeistert und bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit.
»Ja-ha.«
»Und ihr tut Socke in Wodka â¦Â«
»Was? In die Flasche?«, fragte Sally erschrocken. »Nicht gerade hygienisch, oder?«
»Nein, du Depp, du«, korrigierte Kaja mit einem Lächeln. »In Schüssel, nicht wahr? Bis Socke ganz â¦Ã¤h â¦Â«
»Durchweicht ist?«
»Ja, ja, mit viele Wodka. Dann ihr nehmt Socke an FüÃe und â¦Â«Â â Kaja schloss die Augen und gab ein charmantes Schnarchgeräusch von sich â »ihr schlafen, nicht wahr?«
»Naa guut«, meinte Chloe langsam. »Aber wozu das, SüÃe?«
»Um Fieber wegnehmen. Damit du unkrank wirst. Ist gut! Auch noch mit schwarze Pfeffer. Ich habe schon viele Wodka-Socken gehabt. Und Triinu auch, nicht wahr«, erklärte Kaja und deutete auf die groÃe Babyschaukel, in der ihre bezopfte, feierlich dreinblickende Tochter in einem süÃen, mit Zitronenmuster bedruckten Sommerkleidchen saÃ, das ihre Mutter für sie genäht hatte. Triinu lächelte süà zurück, als wollte sie sagen: Das sollte ich euch auch wert sein.
In diesem Augenblick ertönte hinter ihnen eine kräftige Stimme. Und diese Stimme rief überdeutlich und im Brustton der Ãberzeugung: »Ach, Scheibenkleister! Herrgott, geht mir das auf den Sack!«
5
Der Blitzschlag
Alle drei wandten sich um. Da kämpfte eine Frau verzweifelt darum, zwei zappelnde Babys festzuhalten. Ihr Zwillingskinderwagen war gerade unter dem Gewicht von zu vielen Supermarkt-Einkaufstüten gekentert. Und vor ihren FüÃen lag eine Windelwechseltasche, die ihr entglitten war und ihren Inhalt ins Gras ergossen hatte.
Die kleine, stämmige Frau â kurzes schwarzes Haar, in dem eine einzelne weiÃe Strähne einen Akzent setzte, ein nervöser Mund und weit
Weitere Kostenlose Bücher