Der Wunschzettelzauber
durchzustehen. Ihre Mutter war bei ihr geblieben, um ihrer Tochter jede Unterstützung zu geben, die sie vielleicht brauchte, Chloe aber hatte sich während des gesamten Verlaufs unkommunikativ gezeigt, sie hatte sich ganz darauf konzentriert, ihr Baby zu bekommen und das Ganze so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.
Als ihr dann schlieÃlich ein neugeborener Nicolas mit einem verschrumpelten Gesichtchen und geschlossenen Augen an die Brust gelegt wurde, hatte sie das kleine Wesen ruhig betrachtet, ohne allzu viel zu empfinden auÃer der Erleichterung, dass alles gut gegangen und er gesund war. Was die unendliche Liebe betraf, die sie einer Prophezeiung ihrer Mutter zufolge beim Anblick ihres Kindes wie eine Woge überwältigen würde, so empfand sie nichts dergleichen. Sie fühlte sich nur seltsam betäubt.
Einige Tage später hatte sie sich, vor allen AuÃengeräuschen durch Blondie-Songs von ihrem iPod abgeschirmt, plötzlich in ihrem Krankenhausbett aufgesetzt und zu Nicolas hinübergeblickt, der schlafend in seinem Plexiglasbettchen lag. Er trug ein winziges weiÃes Jäckchen mit dem Bild eines Löwen darauf und mit einer Reihe winziger Knöpfe an der Schulter. Sie betrachtete seine von leichtem Flaum bedeckten Beinchen, seine FüÃchen in gestreiften grünen »Freitags«-Söckchen. Diese »Socken für jeden Tag der Woche« erwiesen sich bei ihrem halb benebelten Bewusstsein als groÃe Hilfe, da sie an ihnen erkennen konnte, wie die Tage vergingen. Nicolas war jetzt sechs Tage alt, und dies war das sechste Paar Socken, das er je getragen hatte â an winzigen FüÃchen, die noch nie irgendwo hingelaufen waren. Sie betrachtete seine Knie, seine EllÂbogen und Schultern. Sein rotes, neues, kleines Gesicht, das ihr zugekehrt war wie eine Blume.
Aus dem Kopfhörer drang »Picture this« von Blondie â »⦠Ich will nur ein Bild von dir â¦Â«Â â, und vielleicht war das der Auslöser, denn plötzlich sah Chloe Nicolas, sah ihn wirklich, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Sie biss sich auf die Lippen, nahm ihren Kopfhörer ab und rollte langsam das Kabel zusammen. Dann rückte sie näher an das Bettchen heran, so dass sie ihn direkt ansehen konnte, nicht durch das Plexiglas. Sie legte sich auf die Seite, mit ihrem Gesicht in Höhe seines Köpfchens, und betrachtete die Linien seines Gesichtes, die zart wie chinesische Tuschezeichnungen waren, die Augen, die Nase, der Mund. Ihr Junge. Antoines Sohn. Sie stieà ein leises, leicht ersticktes und ungläubiges Lachen aus. Da öffnete Nicolas die Augen â dunkelblau und mit unbestimmtem Blick. Unverwandt hatte sie ihm in die Augen geblickt und dabei gedacht: »Du bist hier, du lebst. Und ich auch.« Dann hatte sie ihre Wolldecke gepackt, Nicolas angehoben und ihn in die Decke gewickelt, und als sie das Gewicht seines schläfrigen Köpfchens an ihrem Hals fühlte, hatte sie begonnen, ihm auf Französisch etwas vorzusummen, eine Litanei aller Tierkinder, an die sie sich erinnern konnte: âºpetit lionceau, petit chaton, petit hérisson , petit tigre, petit écureuil, petit blaireau â¦â¹ «
Es war der Beginn der zweiten groÃen Liebe ihres Lebens.
6
Nicolas äuÃert einen Wunsch
Nun war Nicolas vier Jahre alt. Chloes Leben in Paris mit Antoine lag schon fünf Jahre zurück. Seit drei Jahren bildete sie mit Sally, Megan und Kaja eine verschworene Gemeinschaft, und seit zwei Jahren arbeitete sie im Bon Vivant . Die Sitzungen mit Stella, der Psychologin, hatte sie vor gut einem Jahr endgültig beendet.
Und heute hatte ihr vierjähriger Sohnemann drei Geschichten geschrieben, oder genauer gesagt â da Nicolasâ Schreibkünste noch darin bestanden, sorgfältig Hieroglyphen zu produzieren â hatte Chloe nach seinem Diktat drei Geschichten in lesbare Schrift übertragen. Da gab es einmal die Toy Story 25½ (die neueste Folge der berühmten Animationsserie) und dann die spannend betitelten Geschichten »Die Action Men kehren zurück und Peng, Peng, Peng!« und »Der riesige Dinosaurier schleicht durchs Gras und will FuÃball spielen « .
Es waren alles spontan ausgedachte Geschichten, die zwar ein Âwenig knapp bei den Figurenbeschreibungen ausfielen, die aber mit einer nicht abreiÃenden Kette von Abenteuern für höchste Spannung sorgten. Zum Beispiel
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