Der Wunschzettelzauber
Und dann tat Chloe das, was sie schon immer bei Nicolas getan hatte: Sie folgte ihrem Instinkt.
»Hör mal, Nicolas«, begann sie sanft. »Erinnerst du dich noch, was ich dir erzählt habe, wo dein Daddy ist?«
»Ja, Mummy«, erwiderte er ganz sachlich. »Daddy ist tot. Er ist da oben in den Wolken.«
»Ja, im Himmel.« Chloe hatte selbst nicht gewusst, ob sie an den Himmel glaubte. Eigentlich war sie sich fast sicher, dass sie nicht daran glaubte. Aber zumindest für Nicolas klang es wie ein wirklicher Ort, den man sich vorstellen konnte. Und er hatte schon sehr früh wissen wollen â eigentlich sobald er fähig war, einen vollständigen Satz zu bilden â, wo sein Daddy hingegangen war, als er starb. Er musste doch wohl irgendwo hingegangen sein. Die Leute konnten ja nicht einfach so verschwinden, oder? Das würde gar keinen Sinn machen.
Chloe konnte Nicolasâ Standpunkt gut verstehen. Wie konnten Menschen einfach verschwinden? Das wäre zu grausam, zu endgültig. Tatsächlich erinnerte sie sich, ganz ähnlich reagiert zu haben, als man ihr damals die Schreckensnachricht überbrachte. Später hatte sie es herausgeschrien, unfähig, sich zu beherrschen, sie hatte es Antoines Eltern gegenüber herausgeschrien, und auch ihrer eigenen Mutter gegenüber, die am Telefon geweint und sie angefleht hatte, sich zu beruhigen und an das Baby in ihrem Bauch zu denken. Damals war Antoines Verlust Chloe vollkommen sinnlos erschienen. Natürlich. Sie waren erst so kurze Zeit verheiratet gewesen. Und sie war schwanger. Sie war schwanger .
Chloe hatte intuitiv gewusst, dass Nicolas all die abstrakten Erklärungen darüber, dass ein geliebter Mensch, wenn er starb, Teil von einem wurde, in der Erinnerung weiterlebte und so weiter, nicht verstehen würde. Obwohl genau das für sie zutraf. Antoine war in ihrer Erinnerung lebendig â dorthin war er gegangen, und dort hielt sie ihn für sich fest.
Nicolas aber hatte keine Erinnerung an seinen Vater, da er ihn nie kennengelernt hatte. Erst im vergangenen Jahr hatte es eine herzzerreiÃende Szene gegeben, als er darum gebeten hatte, seinen Dad treffen zu dürfen. Er wollte ihn einmal wirklich sehen, hatte er gesagt, nicht nur auf den Fotos. Als sie ihm sagte, dass das nicht möglich sei, hatte er bitterlich geweint und sich schrecklich aufgeregt. Chloe hatte das Gefühl, dass ein Teil seines Schmerzes daher rührte, dass er seinen Willen nicht bekam, aber sie wusste genau, wie er sich fühlte, und weinte mit ihm. Sie erinnerte sich, wie auch sie damals die Tatsachen nicht akzeptieren wollte, wie sie Antoine um jeden Preis zurückhaben wollte.
Sie hatte dann ihren eigenen Weg gefunden, mit seinem Tod fertigzuwerden, oder vielmehr â sie war noch immer dabei, ihren Weg zu finden, es war wie eine nie endende Geschichte. Nicolas würde das überfordern. Für ihn wollte sie das Ganze schlicht und leicht verständlich halten.
Und so erklärte sie einfach: Daddy ist tot. Daddy ist in den Himmel gekommen, das ist ⦠da oben, ganz weit da oben über den Wolken, aber so hoch, dass du ihn von der Erde aus nicht sehen kannst. Nein, auch nicht mit einem Teleskop, hatte sie Nicolasâ Frage beantwortet. Und nein, du kannst auch nicht mit einer Rakete dorthin fliegen. Es ist zu weit weg. Aber du kannst es dir in Gedanken vorstellen. Ganz da oben. Da ist Daddy.
Daraufhin folgte eine schmerzliche Phase, in der Nicolas immer wieder gefragt hatte, wie lange es noch dauern würde, bis Daddy vom Himmel wieder zurückkam. Chloe hatte sich gegen die Wogen von Traurigkeit gewappnet, die sie dabei immer überfielen. Kinder waren so. Sie stellten solche Fragen über Menschen, die gestorben waren, ja sogar über Haustiere, deren leblose Körper sie selbst gesehen hatten. Das UnumstöÃliche, das Endgültige des Todes war für Kinder in Nicolasâ Alter schwer zu begreifen.
Und schlieÃlich, nach vielen geduldigen und aufmunternden Erklärungen, in denen sie immer und immer wieder das Gleiche gesagt hatte, hörte Antoines Sohn plötzlich auf, nach seinem Vater zu fragen. Er schien die Situation akzeptiert zu haben. Gott sei Dank , hatte sie zutiefst erleichtert gedacht. Da waren eben nur sie beide, und damit gab er sich zufrieden.
Und nun plötzlich dieser erschreckende Wunsch in einem Brief an den Weihnachtsmann. Ausgerechnet. Chloe dachte an das
Weitere Kostenlose Bücher