Der Wunschzettelzauber
den Spezial-Weihnachtsmann-Briefkasten, Mummy, bitte?«
Chloe biss sich auf die Lippen und begann dann mit der Geschichte, die er so gern hörte. »Ja. In den ganz besonderen roten Briefkasten mitten in der Stadt, der an einem geheimen Ort versteckt ist.«
»Unterirdisch?«, fragte Nicolas atemlos. Sehr lange würde diese Begeisterung nicht mehr anhalten, dachte Chloe, wahrscheinlich nur noch wenige Jahre.
»Ja, unterirdisch. Man muss durch einen Geheimgang gehen«, spann sie die Idee weiter und blickte dabei wieder entschlossen zur Decke hinauf, um gegen ihre aufsteigenden Tränen anzukämpfen. Antoine . »Ãber diesen unterirdischen Gang wissen nur Mamis und Papis Bescheid. Und dieser Briefkasten ist nur für Briefe an den Weihnachtsmann da, für keine anderen.«
»Und er ist ganz, ganz gro�«
»Oh ja, und wie«, bestätigte Chloe. Sie sprach möglichst ruhig und langsam weiter, aus Angst, ihre Stimme könnte brechen und Nicolas beunruhigen. »Viel gröÃer als alle normalen Briefkästen. Das muss er auch sein, weil so viele Kinder so viele Briefe an ihn schreiben. Und dorthin bringt Mummy auch deinen Brief.«
»Und nach Weihnachten verschwindet dann der Briefkasten?«
»Ja. In einer roten Rauchwolke«, improvisierte Chloe. Sie fügte jedes Mal, wenn sie die Geschichte wieder erzählte, ein oder zwei Details hinzu.
Nicolas jauchzte vor Begeisterung. »Und nächstes Jahr kommt er dann wieder?«
»Ja. Dann ⦠ist er wieder da.« Antoine, Antoine, Antoine, schrie ihr Herz voller Verzweiflung.
Nicolas dachte eine Weile nach, dann wechselte sein begeisterter Gesichtsausdruck plötzlich zu Besorgnis. »Wird denn mein Brief auch nicht verloren gehen?«
»Auf gar keinen Fall, mein Schatz«, antwortete Chloe, und ihre Gedanken wanderten ab. Oh Gott, sie musste mit jemandem reden. Jetzt. Und zwar mit einem Erwachsenen. Aber mit wem? Mit ihrer Mutter? Mit Antoines Mutter? Nein. Das war einfach zu viel. Keine von beiden würde wissen, wie man damit umgehen sollte. James? Ihr Bruder war ein patenter Kerl und heiterte sie jedes Mal auf. Aber nein, er war noch zu jung, und er hatte keine Kinder. Er würde das nicht verstehen können. Also gut, dann andere Eltern. Sally? Megan? Kaja? Oder vielleicht Giles?
Chloes Blick flog zu der französischen Art-déco-Uhr, die auf dem Kaminsims stand. Antoine und sie hatten sie gemeinsam in einem kleinen Antiquitätenladen auf dem Lande gekauft. Eines der wenigen Erinnerungsstücke, das sie aus der Pariser Wohnung mitgenommen hatte. Sieben Uhr. Die Zeit, da alle kleinen Kinder zu Bett gebracht wurden. Die schlechteste Zeit, um Eltern anzurufen.
»Mach dir keine Sorgen.« Sie gab Nicolas den Briefumschlag zum Ablecken und verklebte ihn dann.
Sie würde sich das heute Abend alleine überlegen müssen. Ihre Freundinnen, die selbst Mütter waren, hatten alle Partner. Sie konnten sich gar nicht wirklich in ihre Lage versetzen.
Natürlich wusste sie, dass sie mit Nicolas darüber würde sprechen müssen. Aber nicht jetzt sofort, denn sie wäre im Augenblick nicht dazu in der Lage gewesen. Morgen ⦠ja, morgen würden sie ihm alles erklären, sobald sie sich erst überlegt hatte, was um Himmels willen sie ihm sagen sollte.
7
In einer Rakete in den Himmel
Während Nicolas seine Milch trank und Chloe ihm dabei eine Geschichte über einen mutigen kleinen Traktor vorlas, ohne selbst auch nur ein Wort davon mitzubekommen, wiederholte sie in Gedanken ihre eigenen Worte: Du weiÃt doch, dass das nur eine Wunschliste ist , hatte sie tatsächlich zu ihm gesagt. Ganz im Ernst. So ein dämlicher Spruch , dachte sie bitter und hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt. Aber sie hatte es natürlich ganz ahnungslos gesagt, bevor er seinen letzten und besonders herzzerreiÃenden Weihnachtswunsch vorgebracht hatte.
Sie hatte schon das Licht ausgeschaltet und wollte gerade Nicolasâ Zimmer verlassen, da kehrte sie plötzlich, einem inneren Impuls folgend, zu seinem Bett zurück und lieà sich wieder auf der Kante nieder. Das Gespräch konnte nicht bis morgen warten. Sie musste die Sache jetzt mit ihm klären. Sie musste eben improvisieren, das war alles.
»Schätzchen?«, flüsterte sie.
»Mummy?«, murmelte er schläfrig und drehte sich im Bett zu ihr um. Sein warmes kleines Patschhändchen kroch in ihre Hand.
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