Der Wunschzettelzauber
wunderhübsch in einem vergoldeten Rokoko-Bilderrahmen an einer Säule hing, und winkte Jeannette und André Regard zu, die auf dem Weg zu ihren Plätzen an dem erhöht stehenden table dâhonneur waren. Dann machte sie sich auf die Suche nach ihrem eigenen Platz an einem der zwanzig groÃen, runden Tische, die mit strahlend weiÃem Leinen gedeckt waren, umgeben von zierlichen, vergoldeten und mit grauem Samt bezogenen Stühlen.
Sie zog ihre Wollstola enger um die Schultern und umrundete den Tisch, um ihren Namen zu finden, der wie alle anderen in schnörkeliger Schrift mit Schokolade auf einen herzförmigen Keks mit weiÃem Zuckerguss gespritzt war.
Die Gäste begannen, ihre Plätze einzunehmen. Schwatzend warteten sie auf den ersten Toast auf das Hochzeitspaar. Chloe blickte sich an ihrem Tisch um, und zwei Dinge fielen ihr auf. Erstens war der Platz zu ihrer Rechten (der laut Schokoschrift auf dem Keks für einen »Guillaume Sablé« vorgesehen war) noch unbesetzt. Und zweitens war ihr keiner der Namen an ihrem Tisch bekannt, obwohl sie doch viele der heute hier versammelten Gäste kannte, zumindest vom Sehen.
Es kam ihr ein wenig seltsam vor, dass man sie absichtlich mit lauter wildfremden Menschen zusammengesetzt hatte. Gewöhnlich gruppierte man Hochzeitsgäste doch nach dem Gesichtspunkt des Sichkennens: die Studienkollegen an einem Tisch, ebenso die Arbeitskollegen, die Freunde aus Kindheitstagen und so weiter. Was also war es, was sie in den Augen der Gastgeber beispielsweise mit dieser hübschen blonden Frau im Silberlamé-Kleid verband? Oder mit diesem jungen Mann mit der verrückten Brille oder mit diesem aufdringlich extrovertierten, plumpen jungen Mädchen und diesem â abwesenden â »Guillaume Sablé«?
» Alors «, wandte sich da der Mann zu ihrer Linken an sie, » bienvenue à la table des célibataires !«
Chloe sah ihn an. Ein liebenswert wirkender Bursche mit rundem Gesicht und sandfarbenem Haar. Sie lächelte automatisch zurück und versuchte, seine Worte zu verdauen. La table des célibataires  â das bedeutete »der Tisch für die Singles«. Das war es also. Man hatte sie an den Tisch für Unverheiratete gesetzt. Es geschah ihr zum ersten Mal, und Chloe war sich nicht sicher, was sie dabei empfand. Sie lauschte ihrem Nachbarn, der sich vorstellte â er hieà Frédéric, war Tierarzt und lebte bei Petit Mulot â, während sie gleichzeitig überlegte, was diese Platzierung für sie bedeutete. War es einfach eine Frage der Etikette? War es Usus, dass man eine Witwe nach einer gewissen Anzahl von Jahren wieder als unverheiratet ansah? Oder hatte Jeannette Regard Nicolasâ Wunsch nach einem neuen Daddy erwähnt? Wahrscheinlich beides.
» Ah, bonsoir «, ertönte von irgendwo rechts eine männliche Stimme. Chloe wandte sich um, um den Spätankömmling â Guillaume Sablé â ins Visier zu nehmen. Er hatte sich neben ihr niedergelassen. Ein groÃer, kräftig gebauter, breitschultriger Mann. Dunkelblondes Haar, lebhafte blaue Augen, rötlichgolden gebräunte Haut, die bedeutete, dass er sich viel im Freien aufhielt. Und er kam ihr vage bekannt vor. Nein, nicht vage, sondern eindeutig bekannt.
»Bonsoir «, antwortete sie, und spontan setzte sie hinzu, dass sie das Gefühl hätte, sie wären sich vielleicht schon irgendwo begegnet. Er sah sie mit freundlicher Neugier an und meinte dann: »Vielleicht habe ich nur so ein Gesicht. Ich meine, vielleicht sehe ich nur irgendeinem Schauspieler oder einem Popstar ähnlich.«
»Das glaube ich nicht«, erwiderte Chloe und runzelte die Stirn. »Ich glaube, ich habe Sie wirklich ⦠irgendwo schon mal gesehen, und vielleicht sogar ⦠mit Ihnen gesprochen. Ihre Stimme kommt mir auch bekannt vor. Wirklich sehr eigenartig.«
» Ah bon ?«, erwiderte Guillaume Sablé und hob eine Augenbraue. »Vielleicht haben Sie von mir gehört. Ich bin mit der Familie Regard sehr gut bekannt. Sie sind Chloe, nicht wahr?«
»Ja!« Chloe hielt ihren Keks wie ein Namensschild in die Höhe. Er hatte nicht von Antoine gesprochen, fuhr ihr durch den Kopf. Aus Taktgefühl? »Ich bin ziemlich sicher, dass ich Ihren Namen noch nie gehört habe«, fuhr sie fort und deutete auf seinen herzförmigen Keks. »Und ich meine, ich würde mich an jemand
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