Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Zauber deiner Lippen

Der Zauber deiner Lippen

Titel: Der Zauber deiner Lippen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: OLIVIA GATES
Vom Netzwerk:
beginnen sollte. Hinzu kam, dass Agnes gekommen war, um den toten Sohn abzuholen. Würde es sie nicht wundern, dass die trauernde Witwe viel mehr an Rodrigo als am verstorbenen Ehemann interessiert war? Endlich fing Agnes an zu sprechen, und zu Cybeles Überraschung drückte ihre Miene nicht nur Trauer, sondern auch Liebe und Stolz aus. Doch wie sich herausstellte, galten diese Gefühle nicht unbedingt dem verstorbenen Sohn.
    „Als Kind lebte Rodrigo in einer spanischen Gemeinde in Südkalifornien. Seine Mutter kam bei einem Unfall ums Leben, da war er sechs. Da der Vater nicht ausfindig zu machen war, kam der Kleine in ein staatliches Heim. Zwei Jahre später, Mel war gerade sechs, entschlossen Steven und ich uns, ein Kind zu adoptieren, da wir nicht wollten, dass Mel als Einzelkind aufwuchs und wir keine weiteren Kinder bekommen konnten.“
    Aha, so war das also. Rodrigo war adoptiert worden.
    „Bei der Suche nach einem Kind war Mel immer mit dabei, denn für uns war entscheidend, dass er gut mit seinem zukünftigen Geschwisterchen auskam. Aber er schaffte es, jedes Kind, das uns passend erschien, so zu ärgern oder gegen sich aufzubringen, dass es sehr schnell Streit gab. Dann wurde uns Rodrigo vorgeschlagen. Er wäre verantwortungsbewusst, respektvoll, intelligent und ausgeglichen, sagte man uns, also alles, was Mel nicht war.“
    Agnes seufzte. „Aber auch die anderen Kinder vorher waren uns ähnlich beschrieben worden, und so hatten wir wenig Hoffnung, dass er den Test mit Mel bestehen würde. Bei unserer ersten Begegnung kam Rodrigo in den Raum, stellte sich in gebrochenem Englisch vor und fragte, warum wir ein zweites Kind haben wollten. Wir gaben ihm eine kurze Antwort – ich weiß nicht mehr, welche – und ließen ihn mit Mel allein. Das heißt, wir wurden in einen Nebenraum geführt, von dem aus wir die beiden beobachten konnten, ohne dass die Kinder es bemerkten. Mel benahm sich gleich wieder unmöglich. Er beschimpfte Rodrigo, machte sich über seinen starken Akzent lustig und zog in der übelsten Art und Weise über seine Herkunft her. Wir waren entsetzt, dass er solche Worte überhaupt kannte. Steven meinte, Mel reagiere so, weil er sich von den fremden Kindern bedroht fühlte. Aber ich hatte nur Mitleid mit dem armen Jungen und wollte das Gespräch schon abbrechen. Doch dann geschah etwas Seltsames.“
    „Was denn?“ Cybeles Nerven waren aufs Äußerste gespannt.
    „Anders als die anderen Kinder hatte Rodrigo alles ruhig über sich ergehen lassen. Er saß einfach nur da und sah Mel abwartend an. Dann stand er auf und bedeutete Mel näher zu kommen, was Mel zu unserer Überraschung auch tat. Wahrscheinlich war er über Rodrigos gelassene Reaktion genauso verblüfft wie wir. Als die beiden Jungen dicht voreinander standen, schlug Rodrigo den etwas Kleineren nicht zusammen, wie wir alle vermutet hatten, sondern schob eine Hand in die Hosentasche. Vorsichtig zog er einen Schmetterling mit leuchtend bunten Flügeln heraus, den er aus Pappe und Draht gebastelt hatte, und reichte ihn Mel. Der war vollkommen überwältigt und stammelte nur: ‚Danke‘.“
    Agnes senkte den Kopf und lächelte gedankenverloren, sah dann aber Cybele wieder an. „Da wussten wir, dass unsere Suche zu Ende war. Mir zitterten die Knie, als wir Rodrigo fragten, ob er bei uns bleiben wolle. Der Junge konnte kaum glauben, dass wir ihn wirklich wollten. Alle Leute wollten kleine Kinder, meinte er. Aber wir versicherten ihm, dass wir ihn wollten und dass er selbstverständlich ausprobieren könne, ob er mit uns leben wolle. Sehr ernsthaft meinte er, dass auch wir ihn testen müssten. Dann ging er auf Mel zu, schüttelte ihm die Hand und versprach, ihm zu zeigen, wie man solches Spielzeug bastelt.“
    Cybele war zu Tränen gerührt, wenn sie an den tapferen kleinen Rodrigo dachte, der in seinem jungen Leben schon so vieles hatte ertragen müssen. „Und hat er Mel das Basteln beigebracht?“, fragte sie leise.
    Agnes seufzte. „Er hat sich bemüht, aber Mel war viel zu ungeduldig und hielt nie lange genug durch, um etwas zu Ende zu bringen. Aber Rodrigo gab nie auf. Immer wieder versuchte er Mel nahezubringen, welche Freude und Befriedigung ein erreichtes Ziel einem bringt. Wir haben Rodrigo vom ersten Tag an geliebt, aber durch seine Bemühungen um Mel wuchs er uns besonders ans Herz.“
    „Doch im Grunde ist eure Rechnung nicht aufgegangen? Ich meine, dass ein Bruder Mel helfen könne?“
    „Oh, doch. Rodrigo hatte schon

Weitere Kostenlose Bücher