Der Zauber deiner Lippen
schon kamen Steven und Rodrigo zurück, man verabschiedete sich, und die beiden Braddocks gingen wieder an Bord. Und als der Mercedes das Rollfeld verließ, hörte Cybele bereits das Dröhnen der Turbinen, bevor die Maschine sich kurze Zeit später in Bewegung setzte.
Plötzlich wurde ihr bewusst, was dieser Gesichtsausdruck der drei bedeutete, die von Mels Tod besonders betroffen waren. Es war diese Mischung aus Trauer, Erschöpfung und so etwas wie Erleichterung, die Hinterbliebene empfanden, die einen geliebten Menschen nach einer langen, quälenden und unheilbaren Krankheit verloren hatten. Aber Mel war doch sehr plötzlich gestorben. Wie passte das zusammen?
Und noch etwas anderes war ihr aufgefallen. Zögernd wandte sie sich an Rodrigo, der starr aus dem Fenster blickte. „Rodrigo, es tut mir leid, aber …“
Abrupt drehte er sich zu ihr um. „Sag nicht noch mal, dass es dir leidtut.“
„Ich wollte mich doch nur dafür entschuldigen, dass ich dich beim Nachdenken störe. Aber ich muss dich etwas fragen. Warum haben sie nicht nachgehakt? Wegen meiner Schwangerschaft, meine ich.“
Damit hatte er nicht gerechnet, das sah sie ihm an. Aber er fing sich schnell wieder. „Mel hat es ihnen nicht erzählt.“
Damit hatte sie nicht gerechnet. „Aber warum denn nicht? Ich kann verstehen, dass er nichts sagen wollte, solange nicht klar war, ob es auf diesem Weg klappt. Aber dann?“
Gleichmütig zuckte er mit den Schultern, so als wolle er sagen: Keine Ahnung, was in Mel vorging. Und: Was geht es mich an?
Aber sie ließ nicht locker. „Warum hast du es ihnen nicht erzählt?“
„Weil es deine Sache ist, zu entscheiden, ob du es ihnen sagen willst.“
„Warum denn nicht? Sie sind doch schließlich die Großeltern meines Babys. Wäre mir klar gewesen, dass sie keine Ahnung haben, hätte ich sie gleich damit überrascht. Ganz sicher hätte es sie getröstet, zu wissen, dass ihr Sohn in seinem Kind weiterleben wird.“
Rodrigo presste kurz die Lippen aufeinander. „Ich bin froh, dass das Thema nicht zur Sprache gekommen ist. Du bist emotional noch gar nicht in der Lage, dich mit ihrer Reaktion auseinanderzusetzen. Außerdem, da bin ich ziemlich sicher, hätte diese Nachricht auf die beiden nicht unbedingt tröstlich gewirkt, sondern hätte ihnen erst recht vor Augen geführt, was sie verloren haben.“
Hm, das konnte sein, konnte aber auch nicht sein . „Vielleicht hast du recht“, gab sie nach. „Ich werde es ihnen erzählen, wenn ich wieder ganz gesund bin und die ersten drei Monate überstanden sind.“
„Gut“, antwortete er, sah sie dabei aber nicht an.
Der Mann war ihr ein Rätsel, mehr aber noch ihre Reaktion auf ihn. Sie seufzte leise. Wahrscheinlich musste sie nur Geduld haben. „Können wir jetzt nach Hause fahren? Bitte.“
Und Rodrigo nahm Cybele mit nach Hause. In sein Zuhause. Zuerst waren sie vom Flughafen in die Innenstadt von Barcelona gefahren. Danach hatten sie noch einmal eine Stunde gebraucht, um Rodrigos Anwesen zu erreichen. Als sie schließlich kurz vor Sonnenuntergang vor dem mächtigen eisernen Tor gestanden hatten, war Cybele überwältigt von der Schönheit der Landschaft Kataloniens gewesen.
Auch während der Fahrt auf der gewundenen Straße, die zu dem Haus führte, konnte sie sich an der abwechslungsreichen Natur und der mediterranen Pflanzenwelt nicht sattsehen. Als sie schließlich vor einem prachtvollen Herrenhaus im spanischen Stil hielten, blickte Cybele Rodrigo mit leuchtenden Augen an. Während der ganzen Fahrt hatte er kaum fünf Worte gesagt. Und auch sie hatte geschwiegen, unschlüssig, wie sie mit der Diskrepanz zwischen dem, was sie erinnerte, und dem, was ihr Herz ihr sagte, umgehen sollte.
Doch je mehr sie sich das, was er in den letzten Tagen gesagt und getan hatte, ins Gedächtnis zurückrief und daran dachte, mit wie viel Bewunderung jeder von ihm sprach, der mit ihm zu tun hatte, desto mehr glaubte sie ihrem Herzen.
Rodrigo wies auf das Haus vor ihnen. „Willkommen in der Villa Candelaria, Cybele.“
„Danke. Was für ein wunderschönes Haus. Wann hast du es gekauft?“
„Ich habe es selbst bauen lassen und dann nach meiner Mutter benannt.“
Sie war gerührt. Wie sehr musste er seine Mutter geliebt haben, dass er nach all den Jahren diesem prächtigen Haus ihren Namen gab. „Das Ganze wirkt äußerst imposant. Nicht nur das Haus, sondern das ganze Anwesen.“
„Es sind gut fünfzigtausend Quadratmeter. Auch eine ein Kilometer lange
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