Der Zauber deiner Lippen
eine stabilisierende Wirkung auf Mel. Er war der große Bruder, dem Mel in allem nacheiferte. Deshalb hat er auch Medizin studiert. Wie Rodrigo.“
„Dann muss Mel seine Konzentrationsschwäche und Ungeduld offensichtlich überwunden haben. Denn ein Medizinstudium erfordert viel Ausdauer und Beharrlichkeit.“
„Du kannst dich wirklich kaum noch an ihn erinnern, was?“ Agnes sah Cybele traurig an. „Mel war sehr intelligent. Er konnte alles schaffen, wenn er sich nur darum bemühte. Aber eigentlich war nur Rodrigo in der Lage, ihn zu motivieren und ihm immer wieder gut zuzureden. Das blieb auch so, als Rodrigo uns an seinem achtzehnten Geburtstag verkündete, dass er ausziehen wolle.“
„Warum denn das? Hat er sich bei euch nicht wohlgefühlt?“
„Doch. Er hat uns versichert, dass sein Wunsch nichts mit uns zu tun habe. Er habe nur immer schon herausfinden wollen, woher er eigentlich stamme. Und so schwer es uns auch fiel, ihn gehen zu lassen, wir haben ihn nach Kräften in seiner Suche unterstützt, wenn wir auch keine große Hilfe waren. Nach drei Jahren hatte er tatsächlich die Verwandten seiner Mutter in Spanien ausfindig gemacht. Die Großeltern waren natürlich außer sich vor Freude, und die ganze große Familie empfing ihn mit offenen Armen.“
Das kann ich mir vorstellen . „Hat er herausbekommen, wer sein Vater ist?“
„Nein, seine Großeltern wussten es nicht. Als Rodrigos Mutter schwanger war, hatte es eine Riesenauseinandersetzung gegeben, weil sie den Namen des Vaters nicht preisgeben wollte. Sie verließ ihr Elternhaus, weil sie mit solch engstirnigen Menschen nichts mehr zu tun haben wollte. Als die Eltern sich etwas beruhigt hatten, setzten sie natürlich alle Hebel in Bewegung, um die Tochter wiederzufinden, aber sie haben nie wieder etwas von ihr gehört. Natürlich waren sie entsetzt, als sie erfuhren, dass die Tochter nicht mehr lebte. Aber sie waren selig, dass Rodrigo sie gefunden hatte.“
„Und er hat dann wieder seinen Familiennamen angenommen?“
„Nein, das war nicht nötig, denn er hatte den Namen seiner Mutter behalten. Du musst wissen, dass es mit seiner Adoption große Probleme gegeben hatte, und als er von den Schwierigkeiten erfuhr, tröstete er uns. Er meinte, wir sollten uns nicht weiter bemühen. Er wisse, dass wir ihn wie einen Sohn liebten, und sei auch damit zufrieden, unser Pflegekind zu sein. Da war er erst elf, also erstaunlich reif für sein Alter, findest du nicht?“
Cybele nickte. Sie war einfach sprachlos.
„Auch als er seine Verwandten in Spanien gefunden hatte, waren wir für ihn immer noch seine richtige Familie, das hat er uns immer wieder versichert. Die Bande des Blutes allein spielten für ihn keine große Rolle.“
„Und trotzdem hattest du sicher Angst, dass er ganz aus eurem Leben verschwinden würde, oder?“
„Ja. Es war der schlimmste Tag meines Lebens, als er uns eröffnete, dass er nach Spanien ziehen wolle, sobald er sein Medizinstudium beendet habe. Ich dachte, dass sich meine bösen Vorahnungen nun doch erfüllen würden.“
Seltsam, dass Agnes nicht den Tag, als sie von Mels Tod erfahren hat, als den schlimmsten ihres Lebens bezeichnet, dachte Cybele, hob sich diese Frage aber für später auf. „Doch deine Befürchtungen haben sich nicht bewahrheitet?“
„Nein, und das hätte ich mir gleich denken können. Ich kannte doch meinen Rodrigo. Er kümmerte sich nach wie vor sehr um uns, rief an, schrieb E-Mails, besuchte uns und war irgendwie viel präsenter als Mel, obgleich der mit uns unter einem Dach wohnte. Aber Mel hatte immer Probleme, seine Gefühle zu zeigen. Er drückte sie eher mit materiellen Dingen aus, und vielleicht hat er deshalb …“ Agnes stockte und wandte den Blick ab.
„Was hat er?“, fragte Cybele sofort nach, denn ihr war klar, dass Agnes etwas Entscheidendes sagen wollte.
Aber Agnes hatte sich wieder gefasst und überging die Frage. „Rodrigo war sehr erfolgreich in seinem Beruf und hat uns immer an allem teilhaben lassen. Selbst von Spanien aus hat er uns oder auch Mel nie das Gefühl gegeben, weit von uns entfernt zu sein. Er wollte uns überreden, hierherzuziehen, um endlich die Projekte in Angriff zu nehmen, von denen wir schon ewig träumten. Aber Mel wollte nicht. Spanien war für ihn lediglich ein Urlaubsland, er wollte in New York bleiben. Deshalb blieben wir in den Staaten, weil wir das Gefühl hatten, dass Mel uns mehr brauchte als Rodrigo. Aber jeden Winter kommen wir für einige
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